Nagano:
"Es ist ein Meisterwerk."
Hoppermann:
"Es geht zurück auf den Kirchenvorstand des Petri Doms in Bremen. Der Kirchenvorstand hatte bei ihm ein Stück in Auftrag gegeben, das dann im Rahmen der Kar- und Ostertage aufgeführt werden sollte."
Sandberger:
"Jetzt kommt er, der 35-jährige, ja noch ganz junge Brahms da mit einem solchen Werk heraus, das ist eben viel mehr als nur ein Karfreitagskonzert."
Nagano:
"Diese Bremer Vorstellung war wirklich für Brahms’ professionale Karriere als Komponist entscheidend. Er ist plötzlich erschienen."
Annäherungen an Johannes Brahms und dessen großes Chor-symphonisches Werk "Ein Deutsches Requiem". Dessen Urfassung erklang erstmals – fast auf den Tag genau – heute vor 155 Jahren, am Karfreitag 1868 im Sankt Petri Dom zu Bremen. Die Aufführung begann mit einer ausgedehnten Einleitung durch das Orchester.
"Selig" – eine tröstende Verheißung
Tiefe Streicherklänge prägen die ersten Takte von "Ein deutsches Requiem". Die Melodie der Celli und Bratschen erinnert an einen Klagegesang, und der Chor wird diesen Eindruck bestärken. Denn einige Takte später greift er die inzwischen vertraute Klagemelodie auf und singt: "Sie gehen hin und weinen".
Sterben, Tod und Trauer prägen den Karfreitag. An diesem Tag gedenken Christinnen und Christen des Leidens Jesu Christi. Sie erinnern sein Sterben am Kreuz, seinen Tod und seine Grablegung. In vielen Kirchen schweigt die Orgel; Gesänge wie "O Haupt voll Blut und Wunden" nehmen den Geschundenen und Gekreuzigten in den Blick. An einen Jubelruf wie "Halleluja", zu deutsch: "Lobt Gott!", ist gar nicht zu denken. Ja, selbst die Glocken schweigen vielerorts an diesem besonderen Tag.
Sterben, Tod und Trauer prägen auch Brahms’ Meisterwerk, das darüber hinaus der menschlichen Sehnsucht nach Trost einen Ausdruck, ja eine Antwort geben möchte. Das vermittelt bereits der erste Einsatz des Chores. Der erfolgt a capella, also ohne Begleitung durch Instrumente. Piano, ganz leise. Zwei ausgedehnte Akkorde mit dem Wort "Selig" wirken wie eine Überschrift, wie eine zärtliche, tröstende Verheißung. "Selig" – das ist das erste und am Ende auch das letzte Wort in Brahms’ "Ein Deutsches Requiem".
"Von die erste Phrase, wenn es kommt und die erste Erscheinung von dem Chor (…) das ist ein zauberhafter Moment (…)."
Das sagt Kent Nagano. Der weltberühmte Dirigent ist seit 2015 Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg.
"Selig sind, die das Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. [Mt 5,4]"
Diese Worte Jesu aus der Bergpredigt markieren den Beginn des Librettos, der Zusammenstellung von Bibeltexten, die Johannes Brahms für sein "Deutsches Requiem" ausgesucht hat. Der Ausdruck "Requiem" entstammt der lateinischen Bitte "Requiem aeternam dona eis, Domine", zu Deutsch: "Ewige Ruhe schenke ihnen, o Herr". Dieses kurze Bittgebet erklingt am Beginn der traditionellen lateinischen Totenmesse.
"Alle müssen sterben"
Szenenwechsel: Im Jahr 1976 durfte Helmuth Rilling, Kirchenmusiker und Musikpädagoge, als erster Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg in Israel dirigieren. Auf dem Programm: "Ein Deutsches Requiem". Rilling notiert:
"Gewiss kannte (…) [Brahms] Vertonungen des lateinischen Requiem-Textes, wohl vor allem das Werk von Mozart. Das wichtigste Anliegen dieser lateinischen Texte ist das Gedenken der Verstorbenen und die Bitte um ihr Geleit durch das Weltgericht in ein künftiges Leben. Brahms’ Textwahl folgt anders gerichteten Gedanken. Für ihn steht die Trauer um einen verlorenen Menschen im Vordergrund, und er wendet sich vor allem den Trauernden zu. Sein Stück soll ein ,deutsches’ Requiem sein – ein Requiem in deutscher Sprache –, und hierfür wählt er Texte aus der Bibel. " [1]
"Aus seiner Luther-Bibel. Insofern ist es eben, weil es ein deutscher Text ist, ein deutsches Requiem. Auf der anderen Seite ist diese Zusammenstellung so feinsinnig, so besonders, auch theologisch in der Konzeption, dass in der Brahmsforschung immer mal wieder so spekuliert worden ist, ja, da hat Brahms dann irgendwie theologische Beraterinnen oder Berater gehabt, die ihn unterstützt haben, das ist aber nicht der Fall."
Sagt Wolfgang Sandberger, Leiter des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck. Und Norbert Hoppermann, Chordirigent und Leiter des Fachbereichs Kirchenmusik im Erzbistum Hamburg, ergänzt:
"Brahms war schon aus Hamburg weg, befand sich längst in Wien und fing dann an zu schreiben und überlegte, was er dort zum Thema Totengedenken und Tod und Auferstehung machen könnte, und hatte eine ganz eigene Idee, ein Libretto aus Bibeltexten zusammenzustellen, die besonders für Menschen ohne großen kirchlichen Hintergrund interessant sind und die von ihrer Bildsprache her auch den säkularen Menschen ansprechen."
Denn alles Fleisch, es ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen.
Mit Paukenschlägen und kraftvoll gesungenen Worten aus dem ersten Petrusbrief erinnert Brahms im zweiten Satz seines Requiems an die Vergänglichkeit des Menschen. Dieser Trauermarsch im ungewöhnlichen Dreier-Takt verkündet: Alle, die im Bremer Dom versammelt sind, alle, die dieses Stück jemals hören werden, müssen sterben.
Wer soll den Menschen trösten?
Wie aber kommt Johannes Brahms, der 1833 in Hamburg geboren wurde und 1897 in Wien starb, nach Bremen? Warum erklingt die Urfassung des "Deutschen Requiems" in der Hansestadt an der Weser? Hier spielt der Bremer Domorganist Carl Martin Reinthaler eine entscheidende Rolle. Der prägte über drei Jahrzehnte die Musikkultur der Stadt und leitete seinerzeit die Bremer Singakademie.
Sandberger:
"Und der hat über einen anderen Brahms-Freund, Albert Dietrich, die Partitur eben zum Deutschen Requiem erhalten und dann gesagt: Das wär doch ein tolles Stück für den Karfreitag 1868. Und dieser Reinthaler hat dann auch die Proben geleitet und die Aufführung vorbereitet, die Brahms dann aber selbst dirigiert hat."
Nun Herr, wes soll ich mich trösten?
Wes soll ich mich trösten? Dieses fordernde Gebet, die an Gott gerichtete Frage aus dem 39. Psalm markiert die Mitte des dritten Satzes von Brahms eigenwilligem Requiem. Eine gute Frage am Karfreitag – angesichts des Leidens Jesu, aber auch angesichts von Krieg und Naturkatastrophen, von Hunger und Gewalt in der Welt, damals wie heute.
Eine Antwort bietet Brahms am Ende des dritten Satzes. Da nutzt er zum einen den folgenden Vers aus dem alttestamentlichen Buch der Weisheit:
"Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an. [Weish 3,1]"
Zum anderen nutzt Brahms ein helles D-Dur, das Gewissheit ausstrahlt, mehr noch: Er komponiert eine ausgedehnte Fuge, die auf einem langen, quasi immerwährenden Ton steht, auch Orgelpunkt genannt. Helmuth Rilling bemerkt dazu:
"Der Orgelpunkt, der den ganzen [restlichen] Satz trägt, ist das Abbild von Gottes Hand. Mit ihrer rhythmisch so lebendigen Gestalt erlahmt diese Hand nie, keine Qual ist mehr da. Dort, wo der Gerechten Seelen sind, ist ewige Seligkeit." [2]
Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an.
Hoppermann:
"Dieser Kunstgriff, dass er unter die gesamte Fuge das D legt, das ist völlig einmalig. Und das ist auch ‘ne Gänsehaut, wenn man das dem Chor vermitteln kann, und wenn man dann in der Aufführung tatsächlich so im Stück ist, dass man den Flow erleben kann, dass man die Bewegung unbewusst erlebt, aber dass eigentlich das, was im Inneren stabilisiert, dieser Basston ist, auf den man sich immer wieder wie so ein großes „Om“, wie so ein Mantra konzentriert, und weiß, dieser Ton trägt durch."
Den Bremer Verantwortlichen für das Karfreitagskonzert 1868 ist aber all das nicht genug. Dazu Wolfgang Sandberger und nochmals Norbert Hoppermann:
Sandberger:
"Und dieser Reinthaler als Domorganist hat nun doch auch Änderungswünsche sozusagen bei Brahms formuliert, er möge doch dieses Karfreitagsgeschehen im Requiem noch stärker reflektieren."
Hoppermann:
"Nee, das geht so nicht, uns fehlt Jesus, uns fehlt Auferstehung, uns fehlen die eindeutigen kanonifizierten biblischen Texte, die wir normalerweise an den Kar- und Ostertagen in der Kirche hören – und da muss noch irgendwas mit passieren."
Sandberger:
"Darauf ist Brahms – wie immer – nicht eingegangen, er hat also da kein Jota an seiner Musik geändert. Umgekehrt aber hat er Zugeständnisse gemacht, die er zum Teil auch selbst unterstützt hat dann. (…)"
Ein Halleluja am Karfreitag
Bei der Karfreitagsaufführung zu Bremen umfasst das Chor-symphonische Werk "Ein Deutsches Requiem" lediglich sechs Sätze. Erst später komponiert Brahms – angeregt durch die Bremer Erfahrungen – einen weiteren Satz hinzu. Den fügt er als fünften Satz in sein Werk ein. Das weist in seiner finalen Fassung ab 1869 sieben Sätze auf. So kennen wir es heute.
Aufgrund der Änderungswünsche aus Bremen stimmt Brahms aber zu, sein Werk mit bekannten Stücken anderer Komponisten zu ergänzen. Dazu Kent Nagano:
"Und er hat dann verschiedene Interpolationen gemacht in seinem Stück. (…) Er hat Sologeige da mitgebracht, er hat Soloorgel da mitgebracht."
Deshalb erklingen im Bremer Dom nach den ersten drei Sätzen aus "Ein deutsches Requiem" drei Stücke für Violine und Orgel. Ruhige, langsame Sätze ohne Worte. Da ist zum einen das Andante aus dem Violinkonzert a-Moll von Johann Sebastian Bach, da ist zum anderen das Andante aus dem Violinkonzert B-Dur von Giuseppe Tartini. Den beiden Barock-Kompositionen steht als drittes Stück das "Abendlied" von Robert Schumann zur Seite. Der Komponist, ein besonderer Freund und Unterstützer von Brahms, verstarb zehn Jahre vor der Entstehung des "Deutschen Requiems".
Sandberger:
"Und Brahms hat durchaus immer wieder auch mal durchblicken lassen, dass dieses Werk tatsächlich irgendwie mit Robert Schumann auch zu tun habe das ist irgendwie Robert Schumann gehöre, so formuliert er, und das wird in dieser Bremer Aufführung noch mal unterstrichen durch diese Aufführung dieses wirklich berührenden romantischen Abendlieds."
Joseph Joachim, ein großer Brahms-Freund und seinerzeit einer der berühmtesten Geiger Europas, hat Schumanns Klavierstück für Violine bearbeitet und im Bremer Dom vorgetragen. So weit der erste Ergänzungsblock. Der zweite folgt nach den drei Schlusssätzen des "Deutschen Requiems" und enthält vier weitere Stücke. Mit denen trägt Brahms dem Karfreitagsgeschehen stärker Rechnung, mit denen hebt er die Themen Passion und Erlösung, Tod und Auferstehung überaus deutlich hervor.
Hoppermann:
"Er hat – auch wegen der Kürze der Zeit – die Barockrenaissance genutzt, dass man wieder angefangen hatte seit Mendelssohn, auch barocke Oratorien wieder aufzuführen, das ist ja überhaupt erst der Anlass, dass es wieder so große Chöre gab, die in diese Konzerttradition einstiegen, und hat die bekanntesten Oratorien genommen die in seiner Zeit verfügbar waren, nämlich die von Mendelssohn teilweise wieder aufgeführte Matthäuspassion von Bach und den "Messias" von Händel."
Sandberger:
"So hat etwa die Frau des berühmten Geigers Josef Joachim, also die Frau Amalie Joachim, damals noch Arien gesungen etwa die 'Erbarme dich'-Arie aus der Matthäuspassion – gehört natürlich zum Karfreitag – oder auch 'Ich weiß, dass mein Erlöser lebet' aus dem 'Messiah', dem 'Messias' also von Händel. Das sind zwei Stücke die ganz klar mit dem Karfreitag konnotiert sind."
Erbarme dich, erbarme dich, mein Gott, um meiner Zähren willen …
Aus Händels Oratorium "Messias" wählt Johannes Brahms drei Stücke für das Finale der Bremer Karfreitagsaufführung. Zunächst erklingt das Chorstück "Kommt her und seht das Lamm". Dann die Sopran-Arie "Ich weiß, dass mein Erlöser lebet". Und schließlich singt der Chor das berühmte "Halleluja" von Georg Friedrich Händel. Da mag man stutzen: Ein Halleluja am Karfreitag? Ist das nicht verfrüht? Durchaus, legt man liturgische Maßstäbe an. Denn in der Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern entfällt dieser Jubelruf in allen Gottesdiensten.
Ein Musikfest, kein Karfreitagskonzert
So ist mit Blick auf die Uraufführung von Brahms’ Urfassung eine gewisse Spannung nicht zu übersehen. Auf der einen Seite heißt es im gedruckten Programmheft:
"Geistliche[s] Concert am Charfreitag 1868 in der Domkirche zu Bremen"
Sandberger:
"Auf der anderen Seite ist dieses Konzert da in Bremen gar nicht ein Karfreitagskonzert gewesen, sondern für viele einfach nur ein großes Ereignis eines deutschen Musikfestes."
"Das ist kein Gemeindekonzert im Dom, sondern da sind 2500 Menschen zusammengekommen aus ganz Deutschland, ‘ne Brahms-Gemeinde, möchte ich mal sagen, das ist auch in der Presse so angekündigt worden, und diese Aufführung bedeutet sozusagen den internationalen Durchbruch für Johannes Brahms."
Entsprechend wird gefeiert mit viel Wein und guten Speisen – im Ratskeller zu Bremen. Und Clara Schumann, Witwe Robert Schumanns, gefeierte Klavierpianistin und Komponistin, schwärmt in ihrem Tagebuch:
"Es war wie ein Musikfest."
Sandberger:
"Das können wir uns heute eigentlich gar nicht so richtig vorstellen, das an einem Karfreitag. Das zeigt eben eigentlich dieses Spannungsfeld, in dem diese Aufführung stattgefunden hat: Einerseits Karfreitagskonzert, andererseits aber eben großes Musikfest. Und dazu passt auch das Finale. Denn die großen deutschen Musikfeste (…) haben immer mit dem Halleluja-Chor aus dem "Messias" von Händel geendigt. Und so auch an diesem Karfreitagskonzert so auch bei diesem deutschen Requiem. Am Ende steht der Halleluja-Chor von Georg Friedrich Händel, und das wäre anders gar nicht zu erklären."
Nagano:
"Und die Ende von die Brahms Requiem in dieser Urauffassung hat einen so starken Hoffnung mit dabei, eine Licht auf die Zukunft, dass nachdem wir durch diese Tragik tragisch gegangen haben, sollen wir Hoffnung haben."
So das Resümee von Kent Nagano. Er spricht aus Erfahrung, hat er doch im letzten Sommer die Bremer Urfassung des "Deutschen Requiems" wieder erklingen lassen mitsamt all den Stücken, die Brahms 1868 als Ergänzung vorgesehen hatte. Ein gewaltiges Projekt, ein bewegendes Ereignis – in der Elbphilharmonie mit rund vierhundert Sängerinnen und Sängern, mit Solistinnen und Solisten, mit der Hamburger Staatsphilharmonie und Kent Nagano am Dirigentenpult.
Vor diesem Hintergrund antwortet der angesehene Musiker auf die Frage "Ein Halleluja an Karfreitag?":
Nagano:
"Man kann nicht Karfreitag haben ohne Ostern, und man kann nicht Ostern haben ohne Karfreitag. Es ist vielleicht den Grund, warum wir das so stark feiern hier in Hamburg, in der in der ganzen Welt. (…) Diese Hoffnung, (…) das ist eigentlich die schöne Nachricht in die Ostergeschichte, (…) ist das, was der Johannes Brahms hat vielleicht betont in diese "Halleluja" am Ende."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
[1] H. Rilling, Johannes Brahms. Ein Deutsches Requiem, Carus-Verlag: Stuttgart 2016, 3.
[2] H. Rilling, Johannes Brahms. Ein Deutsches Requiem, Carus-Verlag: Stuttgart 2016, 66.