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"Geh aus, mein Herz …!" Lieder der Schöpfung und Daseinsfreude

Feiertag, 07.07.2024

Meinrad Walter, Freiburg

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Diese Musik will heute Morgen aufmuntern, vielleicht sogar wachrütteln. Und sie ist eine Einladung: In der kommenden knappen halben Stunde spazieren wir mit vielen Klängen durch die Schöpfung. Unsere "Landkarte" sind einige Lieder, darunter der alte Choral "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" und das neue geistliche Lied "Gott gab uns Atem, damit wir leben".

Um das Thema der Schöpfung geht es. Und da sind ja viele Dichter und Musiker in ihrem Element! Worte und Klänge ergänzen sich zu einer poetisch-musikalischen Spiritualität der Schöpfung, bisweilen zu einem musikalischen Gebet. Wer mitsingt oder die Melodien ein wenig vor sich hin summt, stimmt in den "Rhythmus" der Schöpfung ein und erlebt Daseinsfreude.

Beim ersten Lied sind wir schon nicht mehr in "geschlossenen Räumen", sondern im Freien. Und vielleicht haben sie die Melodie ja schon längst erkannt? Jetzt kommt noch der Text hinzu, der vom Barockpoeten Paul Gerhardt stammt.

"Geh aus, mein Herz, und suche Freud

in dieser lieben (schönen) Sommerzeit

an deines Gottes Gaben;

schau an der schönen Gärten Zier

und siehe, wie sie mir und dir

sich ausgeschmücket haben."

Der Barockdichter Paul Gerhardt hat das schwungvolle Lied "Geh aus, mein Herz, und suche Freud!" nicht nur verfasst, sondern ihm auch noch die Überschrift "Sommerlied" gegeben. Er will mit diesen Strophen das "Buch der Natur" gleichsam aufblättern und darin lesen. Wer mitgeht, hört vom Gackern der Hühner und dem Summen der Bienen. Ja, man schmeckt fast den Honig und den süßen Fruchtsaft, wenn davon gesungen wird.

Bis heute erinnert uns Paul Gerhardts "Sommerlied" daran, wie bunt und wie lebendig die Schöpfung ist. Die Narzissen und die Tulpen, so heißt es in einer Strophe, würden in einem Schönheitswettbewerb sogar den biblischen König Salomo übertreffen, obwohl der ja so reich war, dass er sich in kostbare Seide kleiden konnte.

"Die Bäume stehen voller Laub,

das Erdreich decket seinen Staub

mit einem grünen Kleide.

Narzissus und die Tulipan,

die ziehen sich viel schöner an

als Salomonis Seide."

Narzissen und Tulpen waren damals, als dieses Lied nach dem Dreißigjährigen Krieg entstand, ein ganz aktuelles Thema, vor allem in den Niederlanden. Ein Pfund solcher Zwiebeln konnte etwa so viel kosten wie ein kleines Häuschen. Es grassierte der "Tulpenwahn" mit Tulpenzwiebeln als Spekulationsobjekten. Die Spekulanten staunten nicht mehr über die Schönheit der Natur, sondern über ihren Profit. Doch auf den "Boom" der Tulpen folgte – wie wohl immer – der "Crash". Nun waren die Tulpenzwiebeln nichts mehr wert, jedenfalls finanziell.

Paul Gerhardt spekuliert nicht, weder mit Geld noch mit seinen Gedanken. Er liebt die Erde, und er hofft auf den Himmel. Das gefällt mir! Was ich in der Natur erlebe, das bringt mich zum Staunen und führt so auf Spuren zum Himmlischen. Der Gedanke an das Himmlische wiederum verliert sich nicht in spekulativen Höhenflügen, sondern bleibt auf dem Boden der Schöpfung. Ich glaube, darüber denke ich heute noch ein wenig nach: über das Irdische und das Himmlische, und über Paul Gerhardt, der die Erde liebt und auf den Himmel hofft. Am besten mache ich einen sommerlichen Spaziergang unter blauem Himmel, mit dem Lied von Paul Gerhardt im Ohr, oder vielleicht sogar auf den Lippen.

"Ich selber kann und mag nicht ruhn,

des großen Gottes großes Tun

erweckt mir alle Sinnen.

Ich singe mit, wenn alles singt

und lasse, was dem Höchsten klingt,

aus meinem Herzen rinnen."

In unseren Sommerliedern geht es um das Innen und das Außen. Außen die Natur, innen das Herz. Beides soll sich finden! Und beim nächsten Choral empfiehlt uns der Verfasser sogar, wo wir sein Lied singen könnten: nämlich: "Im Grünen, auf Reisen und zu Hause". Joachim Neander heißt dieser Autor. Er hat in Düsseldorf gewirkt und ist mit nur 30 Jahren im Mai 1680 gestorben. Doch unsterblich ist bis heute sein Lied "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren".

"Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren,

meine geliebete Seele, das ist mein Begehren.

Kommet zuhauf, Psalter und Harfe, wacht auf,

lasset den Lobgesang hören.

Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret,

der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet,

der dich erhält wie es dir selber gefällt,

hast du nicht dieses verspüret?"

Joachim Neander will in und mit der Schöpfung singen. Deshalb hat er seine Gemeinde gern in Gottes freier Natur versammelt, manchmal in einer Berghöhle. Das Echo, das sich hier in dieser Höhle beim Singen einstellt, hat Neander sogar in sein Lied mit eingebaut. Später ging dieses Echo in den Gesangbüchern leider wieder verloren. Aber gleich hören wir es am Cembalo, sogar als Doppel-Echo! Vielleicht will Joachim Neander uns damit sagen, dass Mensch und Natur so eng zusammengehören wie die Musik und ihr Echo.

Als Jugendlicher habe ich in unserem dörflichen Kirchenchor dieses Lied gern gesungen, in Form einer Lied-Kantate des Frankfurter Organisten Helmut Walcha. Wenn der katholische und der evangelische Chor im Kanon gesungen haben, dann hat das sogar eine ökumenische Bedeutung bekommen: Wir singen das Gleiche, aber doch zeitlich gestaffelt. Helmut Walcha komponiert den Kanon kunstvoll bei den Liedworten "Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet".

"Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet,

der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet.

In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott

über dir Flügel gebreitet."

Die Familie des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer hat "Lobe den Herren" gern als festliche Hausmusik gesungen. Und zwar in der Vertonung, die wir gerade gehört haben. Wenige Wochen, bevor die Gestapo ihn verhaftet hat, hat Bonhoeffer am Klavier den Familienchor zum 75. Geburtstag seines Vaters geleitet. Der Vater hat ihm noch einen Dankesbrief ins Gefängnis geschickt. Er schreibt:

"Bei all der Unruhe, die wir jetzt haben, ist uns die Kantate über 'Lobe den Herren', die Du für meinen fünfundsiebzigsten Geburtstag mit den Enkeln und Geschwistern einstudiert hast, eine schöne Erinnerung, und die wollen wir festhalten."

Das schon 350 Jahre alte Lied "Lobe den Herren" begleitet mich schon lange auf meinem Lebensweg. Immer wieder nehme ich mir Zeit, darüber nachzudenken. Vom ersten Impuls "Lobe den Herren" bis zum allerletzten Wort im Lied, dem feierlichen "Amen". Die letzte Strophe gefällt mir am besten in Johann Sebastian Bachs Vertonung: ein krönender Abschluss mit Trompeten und Pauken. Aber warum sollen wir auf unserem Spaziergang jetzt nicht eine kleine Rast in einem Schloss oder in einer Kirche machen? Da klingt es besonders festlich, mit Pauken und Trompeten:

"Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen.

Alles, was Odem hat, lob ihn mit Abrahams Samen.

Er ist dein Licht; Seele, vergiss es ja nicht.

Lobende, schließe mit Amen!"

Lieder werden komponiert und dann – wie hier von Johann Sebastian Bach – immer wieder in neue Kompositionen eingebaut. Aber das ist nur das Eine.

Zugleich gibt es viele Musiker, die über Lieder improvisieren. Hier ist es der Freiburger Münsterorganist Jörg Josef Schwab. Er sitzt dabei nicht an einer Orgel, sondern – Sie hören es schon – an einem E-Piano. Mich fasziniert es, wenn Musiker nicht nur das spielen, was in den Noten steht, sondern wenn sie frei zu einem Lied improvisieren. Da freuen sich meine Ohren, weil es frisch klingt, spontan und aus dem Moment geboren. Wenn ich höre, was die Finger des Pianisten hier beim Lied "Gott gab uns Atem" so alles machen, erlebe ich das Lied ganz neu. Und ich bin einfach dankbar, dass es diese Musik gibt!

"Gott gab uns Atem, damit wir leben.

Er gab uns Augen, dass wir uns sehn.

Gott hat uns diese Erde gegeben,

dass wir auf ihr die Zeit bestehn."

Den Liedtext hat der Pädagoge und Liedermacher Eckhart Bücken verfasst. Der Komponist unseres Liedes heißt Fritz Baltruweit. Und so klingt es, wenn Fritz Baltruweit und seine Musiker dieses bekannte neue geistliche Lied singen und spielen, auf einer Schallplatte, die vor fast 40 Jahren herauskam.

"Gott gab uns Ohren, damit wir hören,

Er gab uns Worte, dass wir verstehn.

Gott will nicht diese Erde zerstören,

Er schuf sie gut, er schuf sie schön."

So mag das vielleicht auch geklungen haben, als das Lied "Gott gab uns Atem" zum ersten Mal öffentlich zu hören war. Die Uraufführung war im Sommer 1982 auf der ostfriesischen Insel Spiekeroog, bei einem Radiogottesdienst. Da wäre ich als Liederforscher gern mit dabei gewesen. Apropos "Uraufführung". Unser Lied "Gott gab uns Atem" erzählt mir, dass mein erster Atemzug auch eine Art "Uraufführung" war. Die ersten Schritte jedes Kindes sind es, vielleicht sogar die ersten Worte jedes neuen Tages. Auch den heutigen Tag will ich so angehen, wie eine Uraufführung, und mit diesem Lied "neu ins Leben gehn".

"Gott gab uns Hände, damit wir handeln,

Er gab uns Füße, dass wir fest stehn.

Gott will mit uns die Erde verwandeln,

Wir können neu ins Leben gehn."

Ich bin gespannt, welche "Uraufführungen" der heutige Sonntag für mich bereithält. Zum Beispiel, wenn ich etwas, was mir längst vertraut ist, ganz neu verstehe: ein Gedicht, eine Musik oder sogar einen Menschen. Und auch das Improvisieren will ich dabei nicht vergessen und im richtigen Moment das Rechte entscheiden, auch mal eine Planung wieder durchstreichen. Ich will nicht konzeptlos handeln, sondern wie Musiker, wenn sie improvisieren: planvoll und zugleich spontan. Das hoffnungsstarke Lied "Gott gab uns Atem" macht mich zuversichtlich, dass es heute gelingt.

Und dabei hilft mir auch das vierte und letzte Lied auf unserem musikalischen Spaziergang heute früh. Dieses stellt eine kühne These auf: Nicht nur alle können singen. Nein, alles kann singen! Gleich zu Beginn bedarf es nur der Aufforderung "Erde, singe!" – und schon singen nicht nur Menschen, sondern Erde und Himmel mitsamt den Engeln, die sich im Wort "Himmelsgeister" poetisch verbergen. Wie singen sie? Keineswegs verhalten oder zögerlich. Ihr "Jubellied" tönt "laut und stark" – ein purer Ausdruck der Daseinsfreude von allem, was da ist.

"Erde singe, dass es klinge, laut und stark dein Jubellied!

Himmel alle, singt zum Schalle dieses Liedes jauchzend mit!

Singt ein Loblied eurem Meister! Preist ihn laut, ihr Himmelsgeister!

Was er schuf, was er gebaut, preis‘ ihn laut!"

Die zweite Strophe ist von der biblischen Schöpfungserzählung inspiriert. Alles, was Gott erschaffen hat, dankt ihm dafür mit einem "Jubelruf". Gleich sind die "Kreaturen auf den Fluren" an der Reihe, womit wohl die gesamte Pflanzenwelt mit Gräsern und Blumen, Sträuchern und Bäumen gemeint ist. Dann kommen die Tiere herbei, die das Meer, die Erde und die Luft bevölkern. Sie huldigen dem, der ihnen den Atem des Lebens eingehaucht hat. Denn alles, was lebt, lebt aus dem Geschenk dieses Atems. In der Hebräischen Bibel ist dieser Atem weiblich und heißt "ruach", was zugleich "Geistkraft" bedeutet.

Und was kann man nicht alles machen mit dem Atem! In der letzten Zeile jeder Strophe ist sogar das Atemholen komponiert. In einer Steigerung, die musikalisch "crescendo" genannt wird, haben die Singenden sich fast verausgabt. Bevor sie jedoch außer Atem kommen, folgt die Pause zum Luftholen, kurz vor den beiden Schlusstakten: "Er haucht ja allein …" – Pause zum Atmen – "… Leben ein."

"Kreaturen auf den Fluren, huldigt ihm mit Jubelruf!

Ihr im Meere, preist die Ehre dessen, der aus nichts euch schuf!

Was auf Erden ist und lebet, was in hohen Lüften schwebet,

lob ihn! Er haucht ja allein Leben ein."

Der letzte Vers weitet nochmals den Horizont. Wenn hier die singenden Engel ein zweites Mal als „Himmelsgeister“ herbeigerufen werden, dann heißt das Thema jetzt Vollendung. Das letzte Ziel unseres sommerlichen Spaziergangs ist kein irdisches Ziel, sondern ein himmlisches. Dann ist nichts mehr vom Lob ausgeschlossen, nichts versperrt sich diesem Jubel. Die irdische Musik und vor allem die sommerlichen Schöpfungslieder wollen schon einen Vorgeschmack der himmlischen Klänge sein. Ihre Botschaft heißt: Liebt die Erde, freut euch des Daseins, genießt das Leben und hofft auf den Himmel.


Die redaktionelle Verantwortung für den Beitrag hat Martin Korden.

Musik:

CD Geh aus mein Herz, Begleit-CD zum Buch von Meinrad Walter und Jörg Josef Schwab, Verlag am Eschbach

VD Exklusive Volkslieder Sammlung; Christiane Oelze / Eric Schneider, Carus-Verlag

CD Deutsche.Lieder.Welten, Die Lingobarden, Bit-Musikverlag OHG

Geh aus mein Herz, Jay Alexander, Panorama

CD Aus meines Herzens Grunde – Die schönsten Kirchenlieder; Andreas Weller / Kay Johannsen, Carus – Verlag

Lobe den Herren, Helmut Walcha; Chor der Himmelfahrtskirche München

Lobe den Herren, Kantate BWV 137, Ton Koopman, Amsterdam Baroque Orchestra

CD Gott gab uns Atem, Fritz Baltruweit – Lieder aus fünf Jahrzehnten, tvd-Verlag

CD Morgenlob; Erde singe, dass es klinge, Choralschola der Folkwang Hochschule, Wolfgang Bretschneider

Über den Autor Meinrad Walter

Meinrad Walter, geb. 1959; studierte Theologie und Musikwissenschaft in Freiburg und München. Promotion 1993 zur geistlichen Vokalmusik von J. S. Bach. Nach beruflichen Stationen in Wissenschaft, Journalismus und Verlagswesen ist er heute stellv. Leiter des Amts für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg und Honorarprofessor an der dortigen Hochschule für Musik; Moderator von Konzerten und Autor von Radiosendungen; zahlreiche Publikationen im Grenzbereich von Musik und Theologie, u. a. zu Bachs Weihnachtsoratorium, Johannes- und Matthäuspassion; seit 1986 Radiosendungen zu spirituellen und musikalischen Themen.

Kontakt: info@meinrad-walter.de