"Wenn es dir guttut, dann komm", lese ich im Internet – eine Seminarankündigung. Und weiter: "Himmel und Erde verbinden. Der leibliche, nichtsprachliche Weg erreicht ganz andere Ebenen unseres Wesens. Gebet als ganzheitliche Begegnung mit Gott und mit dir selbst. Dieses Seminar ist Einladung und offen für jeden Menschen, der mit der Sehnsucht kommt zu beten."
Beten kenne ich, klar. Also: bewusst in Beziehung gehen mit einem göttlichen Gegenüber. Ein Zwiegespräch mit dem Göttlichen. Mal ganz feierlich in einer Kirche, oft aber auch informell, einfach mal zwischendurch. Manchmal betet es auch einfach so in mir, ohne, dass ich es bewusst steuere. Aber ein Gebet mit dem Körper, so wie es hier in der Ausschreibung eines Kurses steht? Oder etwas wissenschaftlicher: Spirituelles Embodiment?
Das ist neu für mich. Aber interessant! Ich nehme Kontakt auf mit dem Kursleiter. Das ist Hans Lorentzen, ich erreiche ihn im Benediktiner-Kloster Nütschau in Schleswig-Holstein. Dort gibt er gerade ein Wochenseminar zum "Körpergebet". Zusammen mit dem Prior, dem Vorsteher des Klosters, Bruder Johannes. Der Kurs ist ausgebucht, sagt mir die Website – lauter Menschen, die auf der Suche nach Wegen sind, körperlich zu beten.
"Also, das ist wirklich querbeet gemischt, vom Alter auch, von jung bis alt, Männer, Frauen, verschiedene Bildungsstandards"
… erzählt mir Hans Lorentzen. Im Seminar finden sie alle Raum, um verschiedene Formen des Körpergebets auszuprobieren. Getragen von der beruhigenden Atmosphäre eines Klosters. Wer will, kann am klösterlichen Stundengebet teilnehmen oder auch nur zuhören. Fünfmal am Tag kommen die Mönche zusammen. Beten nach festem Schema die Jahrtausende alten jüdisch-christlichen Psalmen der Bibel.
Daneben gibt es sehr gutes Essen, viel Ruhe und Zeit für jeden und jede allein. Kern des Körpergebets ist bei Hans Lorentzen die uralte asiatische Bewegungslehre Qigong. Qigong ist ein Oberbegriff für recht unterschiedliche Schulen, lerne ich.
"Dennoch, in den meisten Qigong-Formen, die mir bisher begegnet sind, geht es erst mal um die Verbindung zu der Welt um mich herum, also die Erde, auf der ich stehe, der Himmel über mir, die Welt um mich herum, vielleicht sogar im Freien, in der Natur, oder der Raum, in dem ich mich befinde, und natürlich auch die anderen Menschen, die dabei sind, wenn ich gemeinschaftlich übe. Dann die Verbindung zu mir selbst, also zu meiner eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit und erst mal in diese Verbindung, ich sag mal, zu dieser scheinbaren Materie zu kommen, ist so in den meisten Qigong-Übungen auch der Anfang."
Dieses Verbunden-Sein mit allem und mit sich selbst, das fehle heute vielen, ist der Eindruck von Hans Lorentzen. Individualisierung, Trennung von der Welt und den Mitmenschen, ja, eine gewisse Entfremdung plagen viele. Die Sehnsucht nach Verbundenheit sei groß! Und auch nach einem wirklichem Verbundensein mit etwas Höherem. Qigong ist offenbar ein guter Weg, genau das alles mal wieder zu spüren. Oder zumindest sich dafür zu öffnen.
"Dieses Gefühl von Einheit oder 'Ich bin verbunden' oder 'Alles ist eins', das ist ja ein ganz menschlicher Zustand, der uns allen, denke ich, auch gegeben ist oder den wir immer mal wieder erfahren, das ist eine ganz zarte Sache. Also, ich kann das nicht machen, wie einen Knopf an oder einen Schalter umlegen, sondern ich kann mich dafür öffnen und bereiten, und wenn dann auch, ich nenne das mal im christlichen, 'Gnade' dazu kommt, dann entsteht da auch Einheit oder Begegnung."
Haben Sie Lust bekommen, ein Körpergebet auf Basis von Qigong auszuprobieren, gleich hier und jetzt? Dann ist jetzt Gelegenheit: "Der Baum" – heißt sie, ein Körpergebet in einer Kurzform. Also, bitte mal aufrecht hinstellen. In einem ruhigen Raum, wo Sie gerade nicht gestört werden. Man kann natürlich auch nur im Geiste mitmachen.
Beten mit dem ganzen Körper – im Kloster Nütschau geht das im Seminarraum, auf der satten, holsteinischen Wiese vor dem Kloster oder mitten im angrenzenden Wald. Immer wieder wird etwas Größeres, etwas Göttliches ganz körperlich erfahrbar. Und christliche Bilder wie der wiederkehrende Christus in der modernen Klosterkirche wirken auf einmal ganz neu.
"Da öffnet Christus selbst seine Arme, und der Herzraum dieses Christus ist im Grunde genommen die optische Mitte der ganzen Kirche. Also, es zieht den Blick dorthin und man fühlt sich fast umarmt von diesem Christus, der da in der Kirche thront. Und wir sind selbst alle in der Kirche in diese Haltung gegangen, haben uns einen Platz gesucht und haben auf genau die gleiche Weise die Arme geöffnet und sind in diese Verbindung von dem eigenen Herzen mit diesem Herz Christi gegangen."
Körpergebet kann eigentlich alles sein, erfahre ich. Alles, bei dem Körper und Seele, manchmal auch noch Stimme und Worte, Hand in Hand gehen.
"Wir üben zum Beispiel auch stilles Sitzen, das hat ja auch was körperliches, wir sitzen ja nicht erstarrt wie Salzsäulen sondern wir atmen, Also, der Atem kann ein Weg sein, das ist ja auch etwas ganz Leibliches, eine innere Bewegung, um ins Gebet zu kommen, die innere Aufrichtung, die Verwurzelung, die Stille, dann haben wir eingeübt meditatives Gehen, so langsames, bewusstes Gehen. Dann gibt es Gesten, Gebärden, ganz unterschiedliche Haltungen, das Öffnen der Arme, Kreuzzeichen, Arme zum Himmel geöffnet, zur Erde, oder halt auch Bewegung, getanzt haben wir auch!"
Und immer wieder auch Übungen aus dem Qigong. In der chinesischen Kultur, seinem Ursprung, werden Körper und Seele, Energien und das Überirdische, seit Jahrtausenden eng zusammen gedacht. Das sanft-fließende Qigong und das abendländische Christentum mit seinen orientalischen Wurzeln ergänzen sich offenbar großartig.
"Also, Qigong und Christentum gehen für mich gut zusammen, ja. Einfach weil sie beide lebensbejahend und ja auch diese Verbindung und diese Begegnung fördern. Was macht das Qigong christlich? Natürlich die eigenen Inhalte, mit denen man das füllt. Also, wie gehe ich an die Sache ran und wie gebe ich es vielleicht auch weiter?"
Das Körpergebet. In beinahe alle indigenen Kulturen gibt es bis heute Vergleichbares, am Amazonas, bei den Aborigines, im Himalaya oder in weiten Teilen Afrikas. Ist es uns irgendwie angeboren, ganz unabhängig von der jeweiligen Religion? Wichtig ist auf jeden Fall auch das Erleben in Gemeinschaft, gemeinsam wird getanzt, gesungen, gebetet. Energien kommen ins Fließen, in jedem selbst und zwischen den Menschen. Und zwischen Mensch und dem Himmlischen.
Nur das Christentum soll hier keine Tradition haben. Stimmt so aber nicht! Aus dem Hoch-Mittelalter sind uns Bilderzyklen erhalten, sehr plastisch, mit kurzen Texten. Sie zeigen den Heiligen Dominikus, Gründer des Dominikaner-Ordens, in unterschiedlichen Haltungen. Dominikus öffnet vor Gott die Hände, wie eine Schale. Er spannt die Arme zum Himmel. Er sitzt schweigend, offen für den heiligen Geist. Er läuft seinen Weg durch die Welt, vor Gott. Für die ersten Generationen der Dominikaner und Dominikanerinnen waren diese orationes secretae, die "stillen Gebete" ganz normal. Ein körperliches Zwiegespräch mit Gott, wohl jeder allein in seinem Kämmerlein.
Leider sind uns diese Traditionen verloren gegangen. Allerdings nie komplett! Die katholische Liturgie ist voll mit körperlichen Elementen: Wir bekreuzigen uns. Wir gehen auf die Knie vor dem Unbegreiflichen. Wir stehen vor ihm, aufrecht, aufgerichtet.
Am Karfreitag gibt es die große prostratio. Punkt 15 Uhr – um diese Zeit soll Jesus gestorben sein – werfen sich alle Priester und Liturginnen flach auf den Boden. Ein Zeichen der Trauer. Und der eigenen Hingabe. Auch der gute alte Kirchenchor betet mit dem Körper – wenn er liturgische Gesänge, alte oder neue Kirchenmusik singt, zum Lobe des Schöpfers und der Schöpfung. Taizé-Singen, Mantra-Gesänge oder auch meditatives Tanzen. In Afrika oder Lateinamerika wird auch im Gottesdienst getanzt, völlig selbstverständlich. Passives Zuhören gilt da als anstrengend, sagen Eingeweihte.
Embodiment, das heißt: Verkörperung, Verleiblichung – ein Begriff aus der modernen Psychologie. Kein einheitlich verwendeter Begriff, aber immer geht es darum: Die Psyche wirkt auf den Körper, auf Körperhaltung, Gestik, Mimik, Sprechweise. Sie kann körperliche Krankheiten verursachen – psycho-somatisch. Und umgekehrt wirkt auch der Körper auf die Psyche, somato-psychisch. Eine aufrechte Körperhaltung schenkt Sicherheit, Selbstvertrauen. Eine gekrümmte Haltung macht unsicher und demütig, vielleicht sogar trübsinnig. Wenn wir uns selbst im Spiegel anlachen, bessert sich unsere Laune. Wie genau das funktioniert, wird gerade intensiv erforscht. Dass es so ist, weiß wohl jeder Manager und jede Schauspielerin.
In der Therapie ist Embodiment gerade sehr im Kommen, sagt Eva-Maria Jäger, Verhaltenstherapeutin.
"Erstmal würde ich sagen, der Körper spielt in der Psychotherapie eine riesige Rolle, und wird es wahrscheinlich auch die kommenden Jahre immer mehr machen. Durch diesen Body-Turn kommt er jetzt auch mehr ins Blickfeld. Und als Therapeutin den Körper außen vor zu lassen, würde ich sagen, das wäre ein ärztlicher Kunstfehler."
Eva-Maria Jäger setzt körperliche Methoden in ihrer Praxis sehr häufig ein. Zuerst mal Entspannungstechniken wie Autogenes Training. Denn körperliche Entspannung, körperliches Erleben ist die Basis für Heilung in den Tiefenschichten.
"Ganz viele Klienten haben auch Schwierigkeiten, ihre Spannung zu regulieren, heutzutage, können nicht mehr richtig gut schlafen, das ist ein großes Thema. wissen nicht mehr so genau, wie fühlt es sich an, geborgen zu sein? Und dieses zu lernen, also wie reguliere ich auch Spannungen, die zu viel sind, wie komme ich so ein bisschen runter – das ist ein körperliches Lernen, das ist kein kognitives oder intellektuelles Lernen."
Eva-Maria Jäger ist nicht nur Psychologin, sondern auch Seelsorgerin, ausgebildete geistliche Begleiterin. Embodiment ist ihr täglich Brot. Und sie geht noch weiter, hin zum Spirituellen Embodiment. Nicht nur Körper und Psyche, sondern auch Seele, Heil und Heilung hängen eng zusammen, sagt sie. Also auch das Seelen-Heil. Über den Körper kann die Seele geheilt werden. Die Seele, der Mensch werden wieder "ganz", heil eben. Und über den Körper kann auch der Glaube gesund werden. Und buchstäblich viel tiefer gehen. Viele von Jägers Patientinnen und Patienten lieben ihre spirituellen Körperübungen.
"Ganz viele von denen sagen: 'Ey, ich kann das in meinem Kopf glauben, ich weiß das auch, aber das kann ich nicht spüren, und das kommt auch gar nicht richtig bei mir an, innerlich an.' Und da habe ich gemerkt, da ist echt eine große Lücke"
Als ich mit Eva-Maria Jäger spreche, ist sie gerade mitten im Sabbatical: Drei Monate auf spiritueller Erkundung in Georgien, Armenien, Alt-Syrien. Stätten uralter Wurzeln des Christentums und seiner Weisheit. Gerade sitzt Jäger im Wohnmobil, draußen prasselt der Frühlingsregen aufs Dach. Auch ihr eigenentwickeltes System von Körpergebeten wurzelt tief in der jüdisch-christlichen Geschichte. Embodied Prayers, nennt sie sie, verleiblichte Gebete. Die antiken Psalmen der Bibel, ausgehärtet in unzähligen Krisen von Menschengenerationen, sind ihre Basis. Pure Worte ohne jede deutende Ausschmückung.
"Ich habe auch Bewegungsabläufe aus dem Qigong Bereich genommen, weil die sich auch zweitausendfünfhundert Jahre lang bewährt haben zur Regulierung von zu viel Spannungen im Körper. Und die habe ich eben auch dann verknüpft mit Bibelworten. Und das landet natürlich ganz anders in uns, auch schon allein durch die Verlangsamung, als wenn wir mal so schnell ein Vaterunser in der Kirche runterrattern."
Mir dämmert: Das Körpergebet potenziert den Sinn. Der Körper nimmt einfach auf, lässt die Psalmworte in ganz tiefe Ebenen sacken, ohne sie bewusst zu erfassen, ohne zu grübeln.
"Bibelworte, das sind ja eigentlich wie Marzipan-Stückchen, die haben verdichteten Nährwert. Die so aufzuschließen, dass wir sie wirklich auch verkosten können, dass wir sie verinnerlichen oder verleiblichen können, das hat mir gefehlt. Und deshalb habe ich mich da auch rangemacht und gesagt, 'Hey, also, es gibt so großartige Psalmworte!' Also, in der Wüstenmönch-Tradition gibt es das Wort 'ruminatio' – wie kann ich ein Wort 'kauen'? So dass ich auch an diesen Nährwert von diesem Wort rankomme."
Man kann sich so das Vaterunser neu er-beten. Oder das altkirchliche Abendgebet. Oder auch Psalmen für spezielle Bedürfnisse, je nachdem, was man gerade am meisten braucht: Trost, Freiheit, Klarheit, Geborgenheit, inneren Frieden…
Das möchte ich genauer wissen. Nein, erleben! Zum Beispiel Worte aus dem bekannten Psalm 139, Nähme ich Flügel der Morgenröte …Freiheit … Geborgenheit…
"Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine rechte mich halten."
Eva-Maria Jäger macht einen weiten Schritt nach rechts vorn, die Arme geöffnet. Führt die Arme zusammen, zum Herzen, schlägt dann einen Kreis, immer größer.
"Nähme ich Flügel der Abendröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine rechte mich halten."
Ein großer Schritt nach links vorn. Die Arme immer breiter, immer weiter. Zum Schluss schließt Jäger beide Hände wieder auf dem Bauch, der Leibmitte. Die Energie wieder einsammeln und bündeln.
Ich habe es ausprobiert: Spirituelles Embodiment – ich habe es ausprobiert! Habe herbe Gregorianik gesungen, die so überraschend persönlich ist. Klingende Gebete des frühen Mittelalters. Habe in der Gruppe einfache, melodischen Taizé-Stücke gesungen, lange, wie ein wiederkehrendes Mantra. Habe nach CD-Anleitung so genannte Leibübungen gemacht, von Peter Dyckhoff, Theologe und früher Pionier. Habe Qigong mit Hans Lorentzen ausprobiert. Und Embodied Prayers mit Eva-Maria Jäger.
Und ich kann sagen: Körpergebete machen einfach glücklich! Alles fühlt sich intensiver an, umfassender. Nicht nur währenddessen, sondern auch danach, im Alltag. Manchmal fühle ich mich wieder frei wie als Kind, als wir über die Wiesen getollt sind. Und die Körpergebete wirken weiter, schon nach kurzer Zeit fange ich an, viele Alltagstätigkeiten wie ein kleines Gebet auszuführen. Die Dusche am Morgen. Der stille Kaffee zwischendurch, ganz allein. Der Blick am Abend über die Felder, in die Weite. Und ich fühle mich tatsächlich verbundener, mit allem. Und mit mir selbst. Denn der Körper ist ja vollkommen ehrlich, er kann gar nicht lügen. Wenn etwas nicht stimmt, zeigt er es mir. Ein wunderbarer Partner, wie es scheint – auf dem Weg zum Lebensglück.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Bernward Koch – The Enchanted Path
Die Priester – Ave Regina Caelorum
Jocelyn B. Smith – How many times
Bernward Koch – Touched by Love
Jeff Buckley – Hallelujah