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Von Leid und Leidenschaft. Warum Bachs Johannes-Passion heute noch fasziniert

Feiertag, 13.04.2025

Meinrad Walter, Freiburg im Bregenz

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"Wenn je Musik von Johann Sebastian Bach uns die philosophische Tugend des Staunens lehren kann, dann in Stücken wie diesem."

Das sagt Alfred Dürr, ein großer Kenner der Bach’schen Musik, die wir gerade hören. Doch worüber sollen wir am meisten staunen? Viele sind ganz fasziniert vom sinnlichen Reichtum, den der berühmteste aller Leipziger Thomaskantoren uns hier präsentiert. Dabei ist seine Johannes-Passion schon über 300 Jahre alt! Bach "übersetzt" das, was in der Bibel über das Leiden Jesu steht, in geradezu leidenschaftliche barocke Klangwelten.

Der monumentale Eingangschor "Herr, unser Herrscher" ist ein großes Gebet in g-Moll. Bach hatte beim Komponieren vielleicht ein Bild von Lucas Cranach vor Augen. Er war mit diesem Gemälde sehr vertraut, weil es damals in der Leipziger Nikolaikirche hing, dem Ort der Uraufführung seiner Johannes-Passion. Auf dem Bild sehen wir Jesus, aber nicht mehr am Kreuz, sondern in den Armen Gottvaters. Weil auch eine Taube als Symbol des Heiligen Geistes zu erkennen ist, deutet Cranachs Bild das Leiden Jesu hier trinitarisch. Der Maler stellt alles Leiden in den Horizont der göttlichen Dreifaltigkeit mit Vater, Sohn und Geist.

Johann Sebastian Bach versucht im Eingangschor seiner Johannes-Passion etwas ganz Ähnliches: Wir hören nämlich eine klingende Trinität! Den Vater in den pulsierenden Noten des Basses, den Sohn leidend in den schmerzlichen Dissonanzen der Holzbläser, und den Geist wehend und webend in den Streichinstrumenten.

Nach dem monumentalen Eingangschor erleben wir mit Bachs Musik zwei Stunden lang alle Personen, die in der biblischen Passionsgeschichte auftreten: also Jesus und seine Gegner, die Jünger Judas und Petrus sowie den römischen Statthalter Pontius Pilatus. Und vor allem den Evangelisten, der fast wie ein Radioreporter durch das Geschehen führt.

Hören wir, wie Johann Sebastian Bach die Szene der Verhaftung Jesu im Garten Getsemane musikalisch darstellt. Das gelingt ihm so plastisch, dass wir uns mitten ins biblische Geschehen hineinversetzt fühlen: Der Evangelist erzählt von Judas, der Jesus verrät. Bewaffnete Soldaten rücken heran. Aber sie handeln eigentlich gar nicht aus freien Stücken. Vielmehr ist es Jesus, der sie mit seiner ganz ruhigen und souveränen Frage "Wen suchet ihr?" zur Rede stellt.

In D-Dur erklingt Jesu hoheitsvolles "Ich bin’s". Obwohl er in höchster Gefahr ist, bleibt er im vierten Evangelium nach Johannes ganz gefasst. Jesus ruht in sich selbst; aber genau damit wirft er seine Gegner zu Boden: Nicht mit Gewalt, sondern mit seinem Wort "Ich  bin’s". Und Bach fragt nun, was dieses freimütige Bekenntnis in seiner ganzen Tiefe bedeutet, wenn Jesus sagt: "Ich bin’s – suchet ihr denn mich, so lasset diese, meine Jünger, gehen".

Jesus stellt sich schützend vor seine Jünger, weil er sie liebt. Deshalb singt nun der Chor die Liedstrophe "O große Lieb, o Lieb ohn alle Maße" aus dem bekannten Choral "Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?" Diese Strophe antwortet auf die schwierige Frage: "Warum muss Jesus all das erleiden?"

Jesus leidet, weil er liebt! Die Liebe Gottes, die er verkörpert, sprengt alle menschlichen Maßstäbe. Und am Ende wird sie sogar stärker sein als der Tod. Bach weiß gewiss, dass Liebe das zentrale Wort im Johannesevangelium ist. Deshalb verlängert er bei diesem ersten Choral "O große Lieb" in seiner Johannes-Passion den vierten Akkord zum Wort "Lieb". Das wirkt wie ein Ausrufungszeichen.

Ein zweites musikalisches Ausrufungszeichen hören wir dann auf dem letzten Wort dieser vierstimmigen Choralstrophe, nämlich dem Wort "leiden".

Um nichts anderes geht es ja in der zweistündigen Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, als um diese Frage: Wie hängen Lieben und Leiden miteinander zusammen?

Bachs Antwort auf die Frage nach dem "Warum" von Jesu Leiden ist eine doppelte: Er leidet für mich, denn er will mich erlösen und mit allem versöhnen, mit Gott und mit den Mitmenschen, sogar mit mir selbst. Und Jesus leidet wegen mir, weil er all meine Schuld auf sich nimmt. Zunächst wird er gefesselt, nein: Er lässt sich binden, um mich zu befreien.

Von den Stricken meiner Sünden
mich zu entbinden, wird mein Heil gebunden.
Mich von allen Laster Beulen
Völlig zu heilen,
Lässt er sich verwunden.

Wann aber verstricke ich mich unheilvoll, so dass ich schuldig werde? Auch dafür hören wir geradezu leidenschaftliche Beispiele in Bachs Passionsmusik.

Denken wir nur an Petrus: Er will immer auf der Seite Jesu stehen. Aber wenn er eingeschüchtert wird, dann verlässt ihn der Mut. Was passiert da? Während Jesus zum Hohepriester Hannas geschickt wird, wärmt sich Petrus am Feuer. Da überfallen ihn förmlich die Gegner mit der Frage "Bist nicht auch du einer von Jesu Jüngern?" Bach komponiert diese Frage bedrohlich. Sie kommt immer näher und wird immer lauter. Und Petrus versagt. Nachdem Jesus drei Mal ganz offen und ehrlich "Ja, ich bin’s" gesagt hat, bringt Petrus nur ein dreimaliges "Ich bin’s nicht" heraus. Er verleugnet Jesus.

Passionsmusik, das ist ein Wechselspiel von Drama und Betrachtung. Die dramatischen Ereignisse drängen unaufhaltsam nach vorn: vom Garten Gethsemane über die Hohenpriester und Pilatus, und dann vom Kreuz bis zum Begräbnis Jesu. Jede Einzelheit kann betrachtet werden. Machen wir auch dazu die Probe aufs Exempel! Im Hof des Hohenpriesters gehen Simon Petrus, den wir schon kennengelernt haben, und ein anderer Jünger hinter Jesus her. Der Evangelist singt:

"Simon Petrus aber folgte Jesu nach und ein andrer Jünger."

Hier hält Bach den Gang der Ereignisse, die nach vorn drängen, absichtlich an. Er will, dass wir die Blickrichtung ändern und nach innen schauen. Aus dem Bericht über etwas Vergangenes – "Die beiden Jünger folgten Jesu damals nach" – wird ein Gebet, das zu meinem ganz persönlichen Beten werden soll: "Ich folge dir gleichfalls". Hier und heute will ich zu dem der in der Bibel namenlosen "andere Jünger" werden.

So wird aus dem äußerlichen Hinter jemandem hergehen etwas Innerliches, nämlich die Nachfolge Jesu an guten und an bösen Tagen. Blicken wir dazu ein wenig in die poetische-musikalische "Werkstatt" der Johannes-Passion.

Bei jeder Arie braucht es zunächst einen Text! Ein unbekannter Autor, vielleicht ein Theologe aus dem Umkreis Bachs, hat dieses Gedicht wohl im Jahr 1724 für Bachs Komposition verfasst und es der Musik sozusagen auf den Leib getextet. Alles dreht sich um das "Folgen":

Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten
und lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht.
Befördre den Lauf und höre nicht auf,
selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.

Auf Bach wirken diese Worte sehr inspirierend. Er macht daraus ein polyphones, ein mehrstimmiges Aufeinander-Folgen aller beteiligten Stimmen, das sind die Sopran-Singstimme als gläubiges "Ich", außerdem zwei Flöten, die wohl die beiden biblischen Jünger symbolisieren, und der Generalbass mit Violoncello und Orgel.

Bachs musikalisches Sinnbild ist hier das Nachfolgen. Er verbindet es mit einen Affekt, der die Musik emotional macht. Und das ist paradoxerweise die Freude: "Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten". Was aber soll die Freude mitten in der Passion? Wir begleiten Jesus doch in sein bitteres Leiden. Bach denkt anders. Er will das Nachfolgen tief ausloten, und zwar am Beispiel des Petrus, von dem wir schon gehört haben. Petrus folgt Jesus zunächst voller Freude nach. Deshalb kann diese Musik gar nicht fröhlich genug sein. Aus den "Schritten" im Text werden sogar musikalische Tanzschritte!

Dann aber scheitert Petrus. Er will sich zu Jesus bekennen, aber es gelingt ihm nicht. Als dann der berühmte Hahn kräht, wird ihm alles klar und er bricht in Tränen aus. Jesus hat das alles bereits gewusst, als er sagte: "Ehe der Hahn dreimal krähen wird, wirst du mich drei Mal verleugnen." Diese Szene mit dem weinenden Petrus hat Bach unnachahmlich komponiert. Der Evangelist fällt schier aus seiner Rolle, so sehr berührt ihn die innere Dramatik des gescheiterten Petrus.

Petrus wollte ein perfekter Jünger sein, der Jesus immer unterstützt, notfalls mit einem Schwert. Jetzt ist er gescheitert und hat sich von seinem Herrn abgewandt. Johann Sebastian Bach komponiert das leidenschaftlich. Aber die Szene ist noch nicht zu Ende. Wir sollen Petrus nicht nur damals sehen, sondern auch den Petrus in uns. Das fasst die Johannes-Passion in diese aufgewühlten Klänge und Worte:

Ach, mein Sinn,
wo willst du endlich hin?
Wo soll ich mich erquicken?
Bei der Welt ist gar kein Rat
und im Herzen
stehn die Schmerzen
meiner Missetat,
weil der Knecht den Herrn verleugnet hat!

So verzweifelt ist Petrus! Jesus hingegen wirkt im Johannesevangelium gefasst, selbst im Leiden. Als Unschuldiger wird er im Garten gefangen genommen und den religiösen Instanzen vorgeführt. Dann wird er "verlacht, verhöhn und verspeit". Sein Schicksal scheint hoffnungslos, denn es endet am Kreuz. Und doch sucht Johannes, der vierte Evangelist, immer wieder nach Spuren der Hoffnung! Eine findet er in Jesu letztem Wort, das er vom Kreuz aus mit letzter Kraft noch spricht, bevor er mit seinem letzten Atemzug den Geist aushaucht, wie die Bibel seinen Tod formuliert. "Es ist vollbracht", sagt er. Und dann – nach einer Pause – erklingt Johann Sebastian Bachs Resonanz auf dieses kostbare letzte Wort Jesu. Eine solistische Gambe darf es kommentierten, wortlos und doch beredt:

Es ist vollbracht,
o Trost für die gekränkten Seelen.
Die Trauernacht
lässt nun die letzte Stunde zählen.

In diesem ruhigen "Ton" könnte die Arie bleiben. Aber Bach hat schon wieder eine neue Idee. Er will, dass sich schon am Karfreitag ein "österliches Fenster" öffnet. In der resignativen Geste des "Es ist vollbracht" steckt ein kämpferischer, ja ein sieghafter Impuls. Der Bach-Fan, Arzt und Humanist Albert Schweitzer hat das gut erkannt, wenn er schreibt:

"Bach war aber nicht nur ein poetischer Musiker, sondern auch ein Denker, der in den Geist der [Heiligen] Schrift tief eingedrungen war. Seine musikalische Darstellung der Bibelworte ist oft zugleich eine Auslegung derselben. So hat er in der Arie "Es ist vollbracht" Jesu Leiden ins Sieghafte gedeutet."

Um das Sieghafte in Musik zu setzen, wählt Bach eine fanfarenhafte Melodie für die Altstimme. Ostern heißt, dass alles anders wird. Und genau das erleben wir in der Musik: aus langsam wird rasch, aus Moll wird Dur. Ostern will überwältigen. Da fehlt sogar die Zeit für das übliche instrumentale Vorspiel, das den Einsatz der Singstimme meistens vorbereitet. Ohne "Vorwarnung" bricht aus dem Leiden ein österlicher Lichtstahl hervor.

Auf Jesu letztes Wort "Es ist vollbracht" folgt noch seine letzte körperliche Geste: Im Sterben neigt er sein Haupt, sein Kopf fällt ihm auf die Brust. Bachs Johannes-Passion will auch aus dem Neigen des Hauptes noch Hoffnung schöpfen. Der Bassist schlüpft dazu in die Rolle eines Betrachters vor dem Kreuz. Er will Jesus eine letzte Frage stellen, die aufs Ganze geht: "Ist aller Welt Erlösung da?", so fragt er. Mit Worten antworten kann Jesus schon nicht mehr. Aber der Bass-Sänger deutet Jesu Neigen des Hauptes als ein letztes "Ja" auf alle menschlichen und ängstlichen Fragen.

"Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen, doch neigest du dein Haupt und sprichst stillschweigend Ja."

Der Bassist singt nicht nur, sondern hört zugleich, was der Chor ihm zusingt mit der Choralstrophe "Jesu, der du warest tot, lebest nun ohn Ende". Der Lutheraner Bach inszeniert hier förmlich Martin Luthers Grundsatz, dass der Glaube vom Hören kommt.

Ja, das Hören ist am wichtigsten, bei aller Musik. Der Philosoph Hans Blumenberg hat die Chancen des Hörens von Bachs Musik vor einigen Jahrzehnten auf die schöne Formel gebracht: „Das Hören höret nimmer auf“. Denn auch das fasziniert an Bachs Musik voller Leid und Leidenschaft: Ich kann sie jedes Jahr neu und anders hören, weil sie so reich ist, so sinnlich und so sinnvoll.

Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion ist schon über 300 Jahre alt. Aber diese Musik fasziniert bis heute, weil sie uns dreifach einlädt: erstens lädt sie, wie gesagt, zum Hören ein, mit vielen Emotionen, mit Freude und Trauer, vor allem mit der Aufforderung zum Mitleiden. Zweitens macht uns Bach ein Angebot zum Nachdenken über Jesu Leiden und Sterben. Bach nennt dieses Nachdenken auch "Betrachten" und "Erwägen". Und drittens ist die Johannes-Passion ein Impuls zum Glauben. Bach antwortet auf die Frage "Was willst du deines Ortes tun?" Seine Antworten heißen: Ich will Jesus nachfolgen, über seinen Tod meditieren, den Palmsonntag und den Karfreitag bewusst aushalten – in der Hoffnung auf Ostern.

Ganz am Ende der Johannes-Passion, nach zwei Stunden musikalischer Trauerarbeit, hören wir einen letzten Choral: "Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen". Ein faszinierendes Bild der Geborgenheit – über den Tod hinaus. So wie Jesus geborgen ist, so will auch ich es sein: behütet von Engeln und in Abrahams Schoß. Was Christen von Jesus glauben, dass er von Gott auferweckt wurde, das wird hier zur Hoffnung für jede und jeden:

"Alsdenn vom Tod errette mich, dass meine Augen sehen dich in aller Freud, o Gottessohn."

Ostern wird Neues eröffnen: einen neuen Blick mit neuen Augen, der das Hören ergänzt. Die Johannes-Passion ist Johann Sebastian Bachs Angebot, bei Jesu Leiden mitzugehen, alle Stationen zu erleben und zu bedenken. Ostern wirkt dabei wie ein "Oberton", der schon leise mitschwingt. Bachs Musik fasst die Heilige Woche, die heute mit dem Palmsonntag beginnt, in ein spannungsvolles Werk. Wort und Ton ergänzen sich, aber auch Spannung und Auflösung, Dramatik und Meditation. Am meisten fasziniert dabei, wie der Thomaskantor seine Hörerinnen und Hörer bis heute ins Thema hineinzieht. Wir dürfen mitleiden, aber auch mithoffen, mit Jesus klagen und mit allen instrumentalen und vokalen Kräften dieses Lob anstimmen:

"Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist …" – "… ich will dich preisen ewiglich."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Tim Helssen.

Musik:

"Da nun Judas zu sich genommen hatte"

Choral "O große Lieb"

"Von den Stricken"

Rezitativ "Und Hannas sandte ihn gebunden"

Arie "Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten"

"Da gedachte Petrus an die Worte Jesu …"

Arie "Ach mein Sinn"

Rezitativ "Und von Stund an nahm sie der Jünger zu sich"

"Es ist vollbracht"

Arie "Mein teurer Heiland"

Schlusschoral "Ach Herr, lass dein lieb Engelein"

Über den Autor Meinrad Walter

Meinrad Walter, geb. 1959; studierte Theologie und Musikwissenschaft in Freiburg und München. Promotion 1993 zur geistlichen Vokalmusik von J. S. Bach. Nach beruflichen Stationen in Wissenschaft, Journalismus und Verlagswesen ist er heute stellv. Leiter des Amts für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg und Honorarprofessor an der dortigen Hochschule für Musik; Moderator von Konzerten und Autor von Radiosendungen; zahlreiche Publikationen im Grenzbereich von Musik und Theologie, u. a. zu Bachs Weihnachtsoratorium, Johannes- und Matthäuspassion; seit 1986 Radiosendungen zu spirituellen und musikalischen Themen.

Kontakt: info@meinrad-walter.de