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"Schöpfe aus dem Nichts." Die Poesie des Verzichts

Feiertag, 16.03.2025

Johannes Schröer, Köln

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Was ist wesentlich im Leben? Was brauchen wir, um glücklich zu leben? Die Fastenzeit hält uns dazu an, dieser Frage nachzugehen und uns frei zu machen von unnötigen Dingen. Der Verzicht in der Fastenzeit hat eine lange christliche Tradition, die vor allem von Speisevorschriften geprägt ist. Aus gesundheitlichen Gründen verzichten viele Menschen auch heute noch in der Fastenzeit auf Alkohol, Zigaretten oder Süßigkeiten. Aber der Verzicht in der Fastenzeit kann weit darüber hinausgehen, indem wir uns auf das Wesentliche unseres Daseins besinnen und unsere Wahrnehmung spirituell erweitern. Schließlich ist die Fastenzeit in christlicher Tradition auch eine vorösterliche Bußzeit, ein Zeitraum des Verzichts und des Betens in Vorbereitung auf das Osterfest.

Schöpfe aus dem Nichts. Die Poesie des Verzichts – eine Spurensuche, die zu zeitgenössischen Dichtern führt und die Fragen aufwirft: Welche Tradition hat das Fasten und warum fasten Menschen heute? Kann das Verzichten auf Luxus und Konsum auch eine eigene künstlerische Ästhetik haben? Und was passiert, wenn man die Fastenzeit sehr ernst nimmt und als meditative "Reise in die Stille" begreift, von der schon die Mystiker des Mittelalters sprechen?

"Fastenzeiten sind ein Thema, was Kultur- und Epochen übergreifend zu finden ist."

sagt die Professorin für Geschichte Annette Kehnel. In ihrem Buch über die Sieben Todsünden spielt die Fastenzeit eine wichtige Rolle als Gegengewicht zur Todsünde der Völlerei und Habgier.

"Es gibt kaum eine Kultur ohne Speiseregeln. Das ist auch sehr interessant, dass im Grunde zur Definition von Kultur, genauso wie Spiel, oder Theater, oder Gesänge und Musik, gehören eben auch Speisevorschriften dazu. In unserer Tradition sind es eben ausgedehnte Fastenzeiten, die über das Kirchenjahr verteilt sind: die Fastenzeit vor Ostern, dazu kommt dann das sogenannte Quatember-Fasten, jede Woche [vor einem Jahreszeitenwechsel wird eingeschränkte Nahrungsaufnahme vorgeschrieben]. Die Adventszeit war eine Fastenzeit und dann immer die Vortage von großen Festtagen."

In den Fastenriten stecke ein enormes gesellschaftliches Erfahrungswissen, sagt die Geschichtsprofessorin Kehnel. Das sei soziologisch gesehen für das Überleben von Kulturen von unschätzbarer Bedeutung gewesen, denn der Mensch habe Regulative wie die Fastenzeit gebraucht, um sich Grenzen zu setzen. Uralte religiöse Riten wie die Fastenzeiten können Mahnen und uns auch heute noch daran erinnern, wo unsere Grenzen sind.

"Wenn sie hier durch die Fußgängerzone in Köln laufen. Ich meine, außer shoppen und essen, fressen können sie nichts. Und dieser Zusammenhang, der ist das Problem."

Der Zusammenhang, den Kehnel meint, ist der zwischen heute fehlenden Regulativen, wie den früher gesellschaftlich anerkannten Fastenriten und der übermäßigen Völlerei, wie sie das in der Fußgängerzone beobachtet hat. Ungezüglete Fast-Food Essgewohnheiten schaden nicht nur der Gesundheit, sondern auch der Natur. Denn Nachhaltigkeit und Tierschutz sind in der industriellen Fleischproduktion zweitrangig. Dagegen setzt die Historikerin Kehnel das Erfahrungswissen der Fastenrituale, die früher gang und gäbe waren und uns auch heute, so sagt sie, Grenzen setzen könnten. Ein konkretes Beispiel: Früher war der Verzicht auf Fleisch in den christlichen Kulturen an jedem Freitag, dem Todestag Christi, für alle Pflicht.

"Dazu kommt ja, dass sehr viele Menschen zwar aus medizinischen Gründen fasten, aber gleichzeitig auch sozusagen eine Erweiterung ihrer Wahrnehmung schätzen, die zum Beispiel während des Fastens eintritt."

Die Erweiterung der Wahrnehmung könne auch dazu führen, dass der Mensch im Verzicht das Einfache – in einer Ästhetik der Zurücknahme – entdeckt. Dafür gibt es viele Beispiele in der Geschichte, sagt Kehnel. So ist das Leben im Kloster seit Jahrhunderten ein einfaches, konsumfreies auf das schlichte Ritual von "Ora et Labora", Beten und Arbeiten konzentriertes Leben. Und dieses schlichte Leben spiegelte sich auch in der Bauweise der mittelalterlichen Klöster wieder.

"Bei der zisterziensischen Baukunst ist die Einfachheit der Form in Verbindung mit Erhabenheit etwas, was in Stein gebaut als großes Gebäude vor uns steht oder als Raum, den wir betreten können, in dem wir ein Echo finden, indem wir eine Dimension unserer Existenz erleben, die über uns selbst hinausgeht. Und diese spirituelle Ebene, ist ganz entscheidend verknüpft mit einer Form der Zurücknahme unseres Egos. Und diese Erfahrung als positive Erfahrung zu erleben, das ist das, was wir dann als spirituelle Erweiterung unseres Daseins wahrnehmen."

Die Fastenzeit kann so aus einer ganz anderen Perspektive eine positive Bedeutung gewinnen. Fasten ist dann nicht nur Entbehrung und traurige Askese, die uns belastet, sondern hat etwas Befreiendes und kann zudem eine ästhetische Erfahrung sein.

Eine ästhetische Erfahrung durch das Fasten hat auch der Autor John von Düffel gemacht. "Das Wenige und das Wesentliche", so heißt sein Buch, das auf der Suche nach einer neuen Lebensweise eine asketische Selbsterfahrung schildert. Von Düffel hat sich zurückgezogen, er hat die Einsamkeit und die Stille in den Bergen gesucht. In der von ihm genannten "Askese der Zukunft" gehe es nicht um das Verzichten, schreibt der Autor, sondern darum zu erkennen, wie wenig ich brauche. Als das Buch erschien und vielfach besprochen wurde, geschah etwas Kurioses, etwas, das er sonst bei keinem anderen Buch erlebt habe, erzählt er:

"Das Buch, mit dem ich angefangen habe, über Askese laut nachzudenken, also das Wenige und das Wesentliche, hat zum Beispiel in Architektenkreisen gigantische Wellen geschlagen. Ich war auf dem Bundeskongress der Architekten eingeladen. Ich war in Bonn zum Bauwende-Kongress eingeladen. Ich habe vor so vielen Architektenbüros gesprochen, dass ich gedacht habe, es ist natürlich eine Ästhetik, und es ist nicht nur im Sinne von: Welcher Stil oder wie minimalistisch [können wir bauen], was man damit so verbindet, sondern natürlich ist auch beispielsweise in Gebäuden, in Häusern, ist die Zukunft entworfen."

Nachdenken über die Zukunft und wie wir mit unserer Welt, mit der Schöpfung umgehen. Dahinter steht die große Frage: Wie lebe ich richtig? Man ist versucht zu sagen, dass John von Düffel in seinen beiden neuesten Büchern eine Ethik der Askese entwirft. Nach seinem Buch: "Das wenige und das Wesentliche" hat er einen weiteren Erfahrungsbericht veröffentlicht. "Ich möchte lieber nichts", heißt sein neuestes Buch. Darin beschäftigt sich der Autor mit unserem Konsum und einem möglichen Konsumverzicht. Und auch hier beginnt alles mit dem Fasten:

"Fasten ist auf jeden Fall eine sehr leibliche, sehr erlebbare Art, sich auch auf die Probe zu stellen und zu gucken, was brauche ich wirklich, was ist mir wirklich wichtig? Es ist ein Reinigungsprozess, eine Klärung und im besten Fall eben nicht nur auf der diätetischen, auf der leiblichen Ebene, sondern eben auch auf der geistigen Ebene. Und sich einfach auch noch mal aus den Selbstverständlichkeiten des Alltags herauszulösen und zu sagen: Ich lass mal dieses weg, ich lass mal jenes weg, ich übe mich in der Kunst des Weglassens und schaue was fehlt mir wirklich?"

Weglassen – auf Konsum verzichten, wenn man das wie John von Düffel ernst nimmt, ist das in unserer vom Konsum geprägten Welt eine echte Herausforderung. Denn der Konsum ist nicht nur ein Konsum von Dingen, sondern hat auch mit den Selbstbildern zu tun, die unsere Identität bestimmen. Jede Tasche, die wir uns umhängen, jede Jacke, die wir anziehen, sagt uns: Mit dieser Tasche oder Jacke bist du toller. So kaufen wir, wenn wir konsumieren, die ganze Zeit uns selbst, indem wir uns über den Konsum definieren.

In seinem Buch: "Ich möchte lieber nichts", lotet von Düffel aus, was es bedeutet, auf Konsum zu verzichten und wie schwer das sein kann. Schließlich sind wir alle in unserer Sozialisation auf bestimmte Art und Weise auf Konsum getrimmt. Sich davon frei zu machen, ist nicht einfach. Aber die Freiheit, die wir dadurch gewinnen, schreibt von Düffel, sei ein Wagnis, das ein Türöffner für eine neue fremde und erfüllende Welt sein könne. So ist Fasten als Konsumverzicht für ihn ein Befreiungsversuch. Je weniger man braucht und je weniger man sich auch wünscht, desto freier werde man, sagt von Düffel und erläutert, was er meint, an einem kleinen, praktischen Beispiel.

"Wenn man sich so im Alltag umschaut, in der S Bahn oder Regionalbahn, wie viele Leute ihre Thermosbecher mit Kaffee dabeihaben und dann gleichzeitig auch noch aufs Handy gucken, dieses und jenes noch haben, und dann vielleicht noch irgendwie aus der Tasche ein Brötchen ziehen. Dann denkt man nur: Aber wie viel einfacher wäre dein Leben, wenn du das alles weglässt und einfach mal nur zehn Minuten aus dem Fenster guckst."

Eine ganz einfache Übung ist das, die John von Düffel empfiehlt, und die Überraschendes zutage fördern könne. Er selbst hat diese positive Erfahrung durch den Verzicht häufiger gemacht und hat dabei auch auf Anleitungen aus christlichen Traditionen zurückgegriffen. So träg sein Buch: "Das Wenige und das Wesentliche" den Untertitel: "Ein Stundenbuch". Stundenbücher sind christliche Gebetsbücher mit bestimmten Gebeten für jeweils andere Tageszeiten. Wie in den Klöstern richtet von Düffel seinen Rückzug an die klösterlichen Tagesabläufe und Routinen aus. Sein Text beginnt in einem Raum, der einer Klosterzelle gleicht. Dort ist ein Tisch, ein Stuhl und ein Glas Wasser, mehr nicht. Und dann wandert er los. Seine Erfahrungen fasst er in kurze Verse zusammen, die wie Gebete sind und sich vom Sonnenaufgang, "Der fünften Stunde" durch die weiteren Stunden des Tages ziehen – seine Suche gilt dabei dem Wesentlichen“.

"Das Wesentliche ist sicherlich schon, sich darüber klar zu werden, was brauche ich wirklich? Denn am Ende erkenne ich anhand meiner tiefsten Bedürfnisse, welche Person ich bin und wer ich bin, zeigt sich daran, wen ich brauche, welche Menschen für mich wichtig sind, was ich brauche. Und dadurch entsteht eigentlich ein Bild von meinem Selbst."

Man könnte den Autor John von Düffel einen modernen Geistlichen nennen, der nach Erlösung vom Konsum sucht und dann von der neuen Freiheit, die wir dadurch gewinnen können, schwärmt. Von Düffel ist allerdings zurückhaltend, wenn man ihn auf seinen Glauben anspricht. Er findet für sein Fasten und Verzichten genug irdische Gründe, die ihn motivieren: Die Wachsamkeit, die neu gewonnene Aufmerksamkeit für die Welt sei ein großer Gewinn, der das Leben kostbarer mache, sagt er. Der große Sinn des Daseins, der Glaube an Gott, ginge weit darüber hinaus, ist von Düffel überzeugt, und sei eine sehr persönliche Angelegenheit. Wichtig findet er es aber, dass jeder für sich seinen Glauben findet und dann seinem Leben eine Richtung gibt:

"Also ich glaube, dass der Sinn des Lebens übersetzt so etwas heißt wie, eine Richtung haben. Ein Leben ohne Richtung, also ohne eine Form von Orientierung, ist tendenziell ein unglückliches Leben. Wenn man aber eine Richtung hat: Das kann das Prinzip einer weltlichen Askese sein, es kann aber auch ein Glauben sein, dass diese Richtung einem einen Halt gibt. Dass es das Gefühl vermittelt, es gibt nicht nur einen Weg, sondern auch ein 'wohin'. Ohne eine Richtung sind wir zum unglücklich sein verdammt und mit einer Richtung fügen sich die Dinge zusammen. Und deswegen würde ich diesen großen religiösen Gedankenraum jeweils der einzelnen Person überlassen. Das ist eine sehr individuelle, sehr persönliche Frage. Ich will jetzt gar nicht sagen Entscheidung, es ist noch nicht mal eine Entscheidung. Der Glaube ist manchmal auch eine Gegebenheit oder ein Geschenk."

Glaubensfragen nähert sich von Düffel ganz behutsam. Anders ist das, wenn er über seine Versuche spricht, herauszufinden, wie man sich auf das Wesentliche im Leben beschränken könne. Asketischer zu leben und auf überflüssigen Konsum zu verzichten, habe auch seine Art zu schreiben verändert, sagt er. Man könnte diese Einstellung auch als eine Art "Poetologie der Askese" verstehen: die Konzentration, sich auf das Wesentliche zu besinnen und sich dabei zu fragen, was denn das Wesentliche im Leben ist?

"Seitdem ich mir diese Frage stelle, bin ich auch natürlich ins Weglassen von ganz vielen Dingen auf der schriftstellerischen Ebene gekommen. Also das ist jetzt kein Rezept, was ich anderen Autorinnen und Autoren ins Stammbuch schreiben würde, aber für mich ist es ein Weg geworden und dieser Weg besteht darin, eben auch wirklich nur noch das Wenige und Wesentliche zu schreiben, was ich schreiben muss. Ich fühle mich eigentlich sehr wohl dabei, mit mir streng zu sein, und auch alles Überflüssige im Erzählen, im Reden wegzulassen."

Sich auf das Wesentliche zu besinnen – aus dem Nichts zu schöpfen und sich als Künstler davon geprägt zu sehen, das sind auch Motive, die wir bei dem Autor Christoph Peters finden. Peters ist in einem katholischen Internat am Niederrhein zur Schule gegangen. Als Jugendlicher hat er sich zunächst von der Institution Kirche entfernt, um sich dann der Religion neu zuzuwenden. Seit über 30 Jahren sind – neben dem Christentum – Japan und der Orient Kulturkreise, mit denen er sich intensiv beschäftigt – auf die ein oder andere Weise, mal praktisch, mal theoretisch, mal ästhetisch. Jeden Tag, so sagt er, meditiere er eine Stunde. Für ihn sei das Gebet und die Stille eine Überlebensnotwendigkeit geworden.

"Dieses Chaos an Stimmen in unserem Kopf, was einerseits ein unglaublicher Pool an Ideen, an Kreativität, an Innovationskraft ist, auf der anderen Seite aber einen natürlich auch in den Wahnsinn treibt, wenn es einem nicht gelingt, irgendwann diese unendliche Mengen von Stimmen wieder zu reduzieren und zu sagen: Ich beschränke mich jetzt auf diesen einen Gedanken, ich gucke jetzt eine weiße Wand an oder ich gucke jetzt ein schwarzes Bild an und konzentriere mich auf meinen Atem oder auf den Rosenkranz, um einfach dieses ewige Gequassel im Kopf wieder zur Ruhe zu bringen."

Die von Peters beschriebene Rücknahme und Reduzierung auf das Wenige als religiöse Praxis findet man in vielen Kulturkreisen. In der katholischen Tradition spielen die kontemplativen Exerzitien, die Besinnung auf Gott als den Urgrund des Seins eine bedeutende Rolle. Mittelalterliche Mystiker wie Meister Eckhart und Johannes Tauler haben diese Art der Gotteserfahrung immer wieder zu beschreiben versucht. Meister Eckhart spricht vom Seelengrund auf dem man den Seelenfunken spüren könne. Soweit will der Autor Christoph Peters nicht gehen, wenn er über seine täglichen Meditationen spricht, in denen er sich vom Durcheinander des Alltags zu befreien sucht.

"Und dann entsteht eine Stille, die trotzdem gefüllt ist. Die ist auch oft schon nach einer Sekunde oder zwei ist sie wieder weg. Aber man hat sie ganz kurz gehört und man übt weiter, eigentlich, um in diesen Moment der gefüllten Stille zu kommen, der auch verbunden ist mit einer Erfahrung, dass man nicht für sich selbst als ewig quasselndes Durcheinander existiert, sondern in dieser Stille mit allem verbunden ist, was um einen herum ist. Das klingt wahnsinnig mystisch, ist aber eine sehr einfache Basiserfahrung, wenn man sie mal gemacht hat. Es ist irgendwie nicht hoch erhaben und euphorisch, sondern es ist so eine ganz einfache Basiserfahrung. Es ist still und ich bin mit allem verbunden und mehr muss eigentlich auch nicht."

Der Theologen und Dichter Christian Lehnert schöpft auch aus der inneren Stille seine Dichtkunst. Dabei experimentiert er mit extremen eigenen Fastenerfahrungen. In seinem Buch "Das Haus und das Lamm" geht es auch um eigenen Erlebnisse, die Lehnert gemacht hat, indem er sich in die Stille der Natur zurückgezogen hat. Er hat in einem Wald gefastet und geschwiegen. In seinem Buch beschreibt er das so:

"Fasten. Ich hockte am vierten Tag erschöpft im Nieselregen im Wald, frierend, atemlos. Schnell verwuchs ich mit dem Moos und dem Ast – dem vorsichtig grünenden Weißdorn. Ich fühlte kaum mehr etwas von innen, keinen Hunger, kein irgendwie geartetes Bedürfnis. Nach außen war ich hellwach, aber merkwürdig distanzlos. Ein abgelegter Findling, war ich, doch völlig durchlässig für die Welt, in Gefahr, mich zu verlieren. Was war da? Es durchstrahlte mich. Ich legte mich auf die Erde und mein geschwächter Körper begann, sofort zu versickern. Mein Halt, meine Gestalt lagen nicht mehr in mir. Ich wurde gerade eben erschaffen."

Lehnert schildert seine Erfahrung im extremen Fasten wie eine Art Geburt einer neuen Welt in ihm und um ihn herum. Eindrücklich beschreibt er auch, wie sich während des Fastens seine Zeitwahrnehmung verändert. Wie die Zeit langsamer zu vergehen schien – oder anders gesagt: Wie die Zeit in der Stille, im Fasten an Bedeutung verlor.

"Fasten ist eine Verwandlung. Ja, es ist vor allem eine Vertiefung. Wer lange gefastet hat, kennt das. Dieses Phänomen, das auf der einen Seite der Körper selbst eine größere Bedeutung gewinnt, weil es eine große Mühsal ist, plötzlich die alltäglichen Dinge zu vollziehen und sich parallel dazu eine vollkommene seelische Freiheit davon entwickeln kann. Und diese Diskrepanz, dieser Spalt, der sich da plötzlich auftut, der hat etwas unglaublich Befreiendes und Tröstliches."

Wenn Lehnert vom Fasten erzählt, ist das, als schildere er eine abenteuerliche Reise in das wahre innere Selbst. Experimentell wie diese Reise in das Innere ist auch sein Versuch, Worte und Bilder zu finden, die möglichst treffend von dieser Erfahrung in einer fremden, anderen Welt erzählen.

"Man versucht an die Grenzen dessen zu gelangen, wo die Identität aufhört, um gewissermaßen in die Fremde hinüberzuschauen."

An die Grenzen zu gelangen, um in die Fremde zu schauen. Der Theologe und Schriftseller Christian Lehnert erzählt in seinen Büchern und Gedichten von seiner Suche nach dem Kern unseres Daseins. Das kann auch dazu verführen selbst Anhaltspukte zu finden, über das Verzichten nachzudenken.

Allen Autoren, die ich getroffen habe, ist eines gemeinsam. Fasten habe etwas Befreiendes, sagen sie, und Fasten könne weit über die gesundheitlichen Vorteile hinaus eine tiefe geistige und ästhetische Dimension haben, die auch Auswirkungen auf ihre Arbeit als Schriftsteller habe. Christian Lehnert spricht von einer neuen Wachsamkeit, die er selbst durch das Fasten erlebt habe und die auch für uns ein Ansporn und eine Übung sein kann, sich in der Fastenzeit neu aufzustellen. Einen Versuch ist das allemal wert:

"Und in dem Moment, wo man genau hinschaut und anfängt zu staunen, ist man plötzlich überrascht. Das genaue Hinschauen ist möglicherweise sogar die elementarste Fastenübung. Ich muss mich gewissermaßen von meinen Erwartungen lösen. Ich muss mich befremden, verstören lassen. Ich muss gewissermaßen über mich hinausgehen und verschwimmen mit dem Gegenüber. Also im genauen Hinschauen, in der Aufmerksamkeit geschieht die Öffnung meiner selbst für das ganze Andere."

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Tim Helssen.

Musik:

Enis Rotthoff – Memories of the Past

Martin Kohlstedt – AHR

Martin Kohlstedt – PHY

Enis Rotthoff – Jugend ohne Gott

Ludovico Einaudi – To be Sun

Über den Autor Johannes Schröer

Johannes Schröer wurde 1963 in Emstek, im Oldenburger Münsterland geboren. Nach dem Studium der Psychologie, Theologie und Germanistik in Marburg, Tübingen und Bochum (Abschluss Staatsexamen), sowie einem Auslandsjahr als Assistent Teacher in London, absolvierte er ein Volontariat bei Radio Essen, wo er fünf Jahre als Hörfunk-Redakteur arbeitete. 1997 wechselte er in die Redaktion KIP-NRW, 2000 dann zum WDR TV-Programm der Lokalzeit Ruhr. Seit 2002 arbeitet Johannes Schröer beim Kölner Domradio. Neben seinen Aufgaben als stellvertretender Chefredakteur und CvD, ist er für die Literatur im Domradio verantwortlich. Veröffentlichungen: "Als der Dom nach Köln kam, Patron Hennes. Die Geißbocklegende des 1. FC Köln" und Mitherausgeber des Katalogbuches "Trotz Natur und Augenschein. Eucharistie – Wandlung und Weltsicht" im Greven Verlag. Außerdem schreibt Schröer Kinderbücher für den Carlsen Verlag in der Reihe Pixi.

Kontakt: johannes.schroeer@domradio.de