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Die Passion der Helga Schubert: Eine Schriftstellerin zwischen Prosa und Pflege

Feiertag, 17.03.2024

Christopher Hoffmann, Neuwied

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Mein Zug bringt mich nach Schwerin. Von dort nehme ich den Bus nach Lübstorf nahe des Schweriner Außensees. Und dann wartet dort mitten auf dem Land, ein Anruftaxi, das ich am Vortag bestellt habe. Denn Busse fahren hier keine. Das Anruftaxi bringt mich über die schier unendlichen Weiten Nordwestmecklenburgs nach Neu-Meteln, einem winzigen Ort, an dem Helga Schubert, inzwischen 84 Jahre alt, mit ihrem Mann Johannes Helm, inzwischen 97 Jahre alt, lebt. Und wo sie ihn pflegt.

Darüber hat die Schriftstellerin, die mit 80 Jahren für ihre Erzählung "Vom Aufstehen" den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat und seitdem ein fulminantes literarisches Comeback feiert, ein eigenes Buch geschrieben. Der Titel: "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe". Denis Scheck nannte es in "ARD Druckfrisch": "Ein Buch, in das man sich verlieben kann." Und Iris Radisch von der Wochenzeitung "DIE ZEIT" konstatierte: "Unsentimental, aber ergreifend." Kurzum: Die Kritik war begeistert. Ich auch. Deshalb mache ich mich auf den weiten Weg aus dem Rheinland zu dieser Schriftstellerin, die Liebe und Leid im Alter zu Literatur werden lässt.

Helga Schubert begrüßt mich und den Fahrer schon winkend auf der Straße – sie ist fast die Einzige, die in Neu-Meteln das Anruftaxi nutzt. Im Haus legt sich die Euphorie: Die Nacht war schrecklich. Sie hat nicht geschlafen. Ihr Ehemann hatte eine Panikattacke. Helga Schubert will nichts beschönigen – ohne zu romantisieren schildert sie in ihrem Buch, wie hart der Alltag sein kann, wenn man einen Angehörigen pflegt. Sie nennt diesen Angehörigen "Derden" – der, den ich liebe. Und schreibt:

"Manchmal kann ich nur noch schluchzen. Wenn ich Erbarmen mit Derden habe, dann ist die Traurigkeit weich. Und manchmal weine ich um uns beide. Wie schön wäre jetzt ein Spaziergang im Sand an der Nordsee oder im Halbschatten, wenn die Linden duften, oder im Botanischen Garten, ach, alles nicht mehr möglich, denke ich dann, kann meine Fantasie ausreichen, wenigstens in der Erinnerung all das zu wiederholen?"

Während unserem Interview im Wintergarten liegt das Babyphone auf dem Tisch. Plötzlich hört man die Stimme von Helga Schuberts Ehemann. Sie stürzt ins Schlafzimmer. Zehn Minuten später hat sie ihn aus dem Bett in den Rollstuhl gesetzt. Er begrüßt mich freundlich. Als Professor für Klinische Psychologie hat er an der Humboldt-Universität in Berlin gelehrt. Über 1300 Ölbilder hat er gemalt – eine ganze Galerie füllt das Haus des Ehepaares. Er erzählt mir von der Sternwarte, der roten, die im Garten steht, und mit der er immer ins Weltall geblickt hat. In den Makrokosmos. Und dann erhalte ich einen Einblick in seinen aktuellen Mikrokosmos.

Er sagt zu mir: "Das ist hier wie zu Hause." Helga Schubert seufzt: "Du bist zu Hause! Du bist in Neu-Meteln im Wintergarten." "Wirklich?", fragt er. Stille. Liebevoll berührt Helga Schubert ihren Mann an der Schulter. Dann setzt sie sich wieder zu mir an den Tisch – und wenn sie aus ihrem reichen Leben erzählt, dann strahlen ihre wachen Augen. Wie ist das Leben zwischen Büchern und Blasenkatheter, 24 Stunden, sieben Tage die Woche, Frau Schubert?

"Ist ganz schön reich. Ist ein reiches Leben. Es kommt ja auch der Pflegedienst – also 24 Stunden minus zweimal zwanzig Minuten. Kann ich jetzt sagen. Als ich das Buch schrieb, habe ich es noch allein gemacht, und morgens kam er nur aber jetzt kommt der Pflegedienst zweimal am Tag immer zwanzig Minuten und das find ich unglaublich positiv. Ich freu mich auf die Schwestern und den Pfleger – sie haben nur einen dabei – weil die so die Außensicht bringen und weil die relativieren können, weil sie mir auch Mut machen und weil das normale Leben plötzlich dasitzt, und ich versuche die immer zu einem Kaffee zu überreden – die haben natürlich sehr wenig Zeit. Aber ich habe mich gestern bei einer Schwester bedankt – ich sagte: 'Ich finde Sie sehr nett.' – 'Ja, Sie sind ja auch nett', sagte sie da. Das hat mich gefreut."

Auch in ihrem Buch "Der heutige Tag" gibt es immer wieder Passagen, die zeigen, wie wichtig es ist, dass pflegende Angehörige von der Gesellschaft nicht vergessen werden. Da kann schon eine WhatsApp-Nachricht Wunder wirken. Helga Schubert, die Psychologie studiert und als Therapeutin gearbeitet hat, schreibt:

"Selbst ich, die doch im Studium, in der Nervenklinik und in der Ehe-, Familien-, Jugend und Sexualberatungsstelle gearbeitet hat, bin so dankbar, wenn mir jemand Mut macht, dabei bin ich doch nur eine Angehörige, keine Sterbende. Oder wenn nur ein Brief kommt, nur eine WhatsApp-Frage 'Wie geht es Dir?', mit einem Emoji für Umarmung."

Und noch etwas ist es, was Helga Schubert Kraft schenkt: ihr Glaube an einen Gott, dem menschliches Leid nicht egal ist: 

"Gerade hatte ich von einer Hannoveraner Pastorin einen Brief bekommen mit der Frage, wie ich alles bewältige, was mir aufgegeben ist. Ja, aufgegeben ist. Das kann man glauben oder nicht. Ich glaube es: Gott hat zwar größere Sorgen, als einen unabsichtlich herausgerissenen Urinbeutel an einem Blasenkatheter wieder anklemmen zu lassen […] aber wenn er mir das seit sechs Jahren täglich aufgibt, dann darf ich auch auf die Zuteilung von Kraft hoffen, in Zukunft ruhig zu bleiben, nicht so zu jammern. Wer A sagt, muss auch B sagen, so denke ich von anderen Menschen und auch von mir. Aber von Gott denke ich: Er sagt A und B. […] Sorge nicht für den andern Morgen."

Dieses Jesuswort aus dem Matthäusevangelium (Mt 6,34) hat sie ihrem Buch vorangestellt: "Darum sorgt nicht für den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen." Ihr Glaube an Gott hilft Helga Schubert dabei, die gegenwärtige Situation anzunehmen. Denn nur so könne sie ihr Leben bewältigen, sagt sie:

"Indem man es annimmt, das ist wirklich meine einzige Antwort nach den vielen Jahrzehnten, die ich selbst in der Psychotherapie gearbeitet habe und in der ich einfach diesem Leben so gegenübergestanden habe, bis ich gedacht habe das nehme ich jetzt an. Das hört sich vielleicht ganz einfach an, aber das ist die Lösung. Wenn man dann auf irgendeine Weise noch eine Distanz dazu kriegt, die aber nur durch Humor kommen darf. Die Distanz, die muss dadurch kommen, dass man sich auch relativiert, dass man das eigene Leben relativiert und einfach weiß, es gibt etwas viel Größeres als dieses eigene Leben. Und daran glaube ich."

In ihrem Buch "Der heutige Tag" findet sie dafür eine wie ich finde wunderbare Sprache. Das kürzeste Kapitel im Buch besteht nur aus vier Sätzen und berührt mich sehr. Sie schreibt:

"Dies ist unsere nächste Lebensaufgabe: Annehmen. Kreatürlich leben. Wärme auf der Haut. Verlass mich nicht."

Als katholischer Theologe macht mich auch der Untertitel von "Der heutige Tag" neugierig. Er lautet: "Ein Stundenbuch der Liebe." Denn Stundenbücher sind seit dem Mittelalter die Andachts- und Gebetbücher der Gläubigen. Ich frage sie, während Helga Schuberts Mann im Wintergarten mit dem Rollstuhl langsam vor- und zurückfährt:

"Möchten Sie damit auch ausdrücken: Auch Pflege, auch gelebte Nächstenliebe kann Gebet sein? Ja. Ja. Ich hab das dann in dem Moment erst als Untertitel genommen, weil mich meine sehr intelligente katholische Lektorin im DTV beruhigte, die hat gesagt: Stundenbuch bedeutet nicht, dass die Mönche jede Stunde beteten, sondern dass es bloß zu bestimmten Zeiten war es vorgegeben zu beten, also deshalb muss ich auch nicht für jede Stunde mir was ausdenken, was da in diesem Buch passiert. Es sollte durchaus auch was Religiöses sein in diesem Buch, denn ich habe ja auch ein Motto genommen aus Matthäus: 'Darum sorge nicht für den morgigen Tag – denn der morgende Tag wird für das seine Sorgen.' Also das ist durchaus ein Hoffnungssatz und durchaus ganz diesem Stundenbuch geschuldet. Das ist formal angelehnt, bloß nicht so schön illustriert, wie die Mönche es im Mittelalter machten.
Aber ich finde das ganze Buch atmet ja genau diese Zuversicht – in aller ohne Pathos geschilderten Sachlichkeit der Pflegesituation, […] atmet es Hoffnung und atmet es diese Grundzuversicht: Da ist noch jemand der diesen Weg mit mir geht.
Ja, und es geht auch weiter. Auch wenn der Weg, also wenn dieser Weg, diese Wegstrecke zu Ende wäre."

Dass das Leben weitergeht – diese Botschaft ist für Helga Schubert tief mit dem Osterfest verbunden. Die biblischen Erzählungen rund um die Passion sind für die evangelische Christin ganz zentral.

"Also die Ostergeschichte birgt alles – birgt alles an menschlicher Versuchung und an menschlicher Anständigkeit und an Schuld und wie man mit Schuld umgeht, alles. Da kann man auch wirklich das ganze Jahr drüber nachdenken. Ist für mich wirklich die allerwichtigste Geschichte der Bibel. Weil ich auch so viel darüber nachgedacht habe finde ich auch so viele wirkliche Beispiel im Leben. Also das hat sich gegenseitig beeinflusst."

In dem Erzählband "Vom Aufstehen" widmet sie dem höchsten christlichen Fest sogar einen eigenen Text mit dem Titel "Meine Ostergeschichte". Darin heißt es:

"Ich muss in der Karwoche täglich daran denken, was Er an diesem Tag gerade macht: Am Palmsonntag auf einem Esel der bejubelte Einzug in Seine Stadt, beim letzten Abendmahl, am Ölberg, wie Er verraten und verhaftet wird, wie Er als angeklagter Aufrührer vor Pilatus steht, […] wie Er Sein Kreuz den Berg hinaufträgt, wie links und rechts von Ihm Mörder hängen, wie der Himmel aufreißt, als Er stirbt. So geht das bis Karfreitag. Nun bin ich eine alte Frau, dreiundsiebzig Jahre älter als damals im Religionsunterricht; denn ich wurde in eine Klasse eingeschult, die nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 begann. Wir hatten alle Religionsunterricht, obwohl wir im russischen Sektor Berlins wohnten."

Der Religionsunterricht und Kindergottesdienste, erzählt mir Helga Schubert, waren für sie ganz wichtige Orte, um überhaupt etwas von Jesus Christus und seiner Botschaft zu erfahren:

"Das war für mich eine vollkommen andere Geisteshaltung als die, die in der Schule gepredigt wurde mit Diktatur der Arbeiterklasse und so. Hier ging es immer um Versöhnung, um Frieden und vor allem dieser Segen am Ende des Gottesdienstes, das war für mich also dass alles vergeben wird und dass einem nicht jemand immerzu was Übel nimmt. Und das man nicht immerzu mit einer schweigenden Mutter konfrontiert ist, die einem das oder das Übel nimmt, die tagelang nicht mit einem gesprochen hat."

Ihre atheistische Mutter hat Helga Schubert nicht religiös erzogen.  Und dennoch ist für die Schriftstellerin der christliche Glaube eine ganz zentrale Hoffnungsquelle geworden. Sie erinnert sich auch noch daran, wie ihre Mutter reagierte, als die Passions- und Osterzeit im Religionsunterricht durchgenommen wurde:

"Als Sechsjährige packte mich die Wut auf den Verräter, der Ihm auch noch einen Kuss gibt, damit Ihn die Polizei, die Ihn sucht, auch ja erkennt und verhaften kann. Das ist alles nicht so gewesen, sagte meine Mutter zu mir, als ich deshalb aufgeregt aus der Schule nach Hause kam. Sie glaubte nicht an Gott: Aber du musst schön in der Schule aufpassen, denn sonst verstehst du die Bilder im Museum nicht. Oder wenn es im Theater vorkommt oder in Büchern davon die Rede ist. Mein Vater hat es mir nicht erlaubt, in den Religionsunterricht zu gehen, sagte meine Mutter zu mir. Und darum musste sie manchmal im Lexikon nachsehen, wenn sie ratlos vor einem Rembrandt- oder Michelangelo-Bild gestanden hatte. Heute weiß ich: In dieser einen Woche vor Ostersonntag passiert alles, was ich inzwischen vom Leben verstanden habe: Wie schnell sich das Schicksal für einen Menschen ändert, dass man verraten werden kann. Dass es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg. An diese Hoffnung will ich erinnert werden. Einmal im Jahr."

Ich will von Helga Schubert wissen: Was feiern Sie ganz persönlich am Osterfest?

"Ich feiere, dass der ganze Verrat vorbei ist – das ist für mich ein Lebensthema und Ostern für mich das Symbol ist, dass es weitergeht. Und dass also jede im weitesten Sinne böse Absicht anderen Menschen gegenüber aufgelöst ist durch Ostern, ja. Es ist ein Sieg im weitesten Sinne des Guten und der Hoffnung."

Verrat als Lebensthema – dabei spielt die schwierige Beziehung von Helga Schubert zu ihrer Mutter eine große Rolle. Immer wieder ist sie Thema in ihrer Literatur:

"Ich bin mit sehr hasserfüllten Worten großgeworden, also von meiner Mutter aus, einer großen Kühle. Das ist keine Ambivalenz gewesen mir gegenüber, sondern es war eigentlich eine eindeutige Ablehnung meiner ganzen Person."

In der Erzählung "Vom Aufstehen" steht diese Episode aus der Kindheit von Helga Schubert stellvertretend für die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung:

"Zu ihrem Geburtstag im November 1946 hatte ich ihr eine Kette aus weißen Bohnen geschenkt […]. Eine solche Kette hatten im Jahr 1946 alle aus meiner Klasse ihren Müttern geschenkt. Und die Mütter der anderen freuten sich, nahmen ihre Kinder in den Arm und gaben ihnen einen Kuss. So hatten es mir meine Freundinnen erzählt. Ich hockte also erwartungsvoll auf der Bettkante. Meine Mutter stand vor dem Spiegel. Ich holte die Kette aus dem Versteck, schenkte sie ihr und sagte: 'Guck mal, was ich für dich gemacht habe.' Meine Mutter sah weiter in den Spiegel, um sich zum Ausgehen zu kämmen, als ich ihr vorschlug, die Weiße Bohnen-Kette anzulegen. Sie wandte sich zu mir: 'Nein, so etwas trage ich nicht.' Ich bekam doch kein Taschengeld, um ihr etwas zu kaufen. Meine Mutter lachte, vielleicht von der Armseligkeit angeekelt."

Bittere Erinnerungen an eine harte Zeit. Sie war ein Mädchen, die Mutter wollte einen Jungen. Auch das empfindet Helga Schubert heute als Verrat. Aber auch ganz konkret hat sie erfahren müssen, wie die Mutter sie in einer schwierigen Situation tatsächlich verraten hat:

"Sie hat mich immer bekämpft. Und ich hab auch das Gefühl gehabt sie hat mich verraten. Also zum Beispiel als ich mich aus der ersten Ehe scheiden wollte, da gab es wirklich Gründe – da hat sie tatsächlich an den Richter geschrieben, an den Familienrichter. Der hat mich hinbestellt in sein Arbeitszimmer, das hat er noch nie erlebt – sie hat gesagt er soll mir nicht glauben in Wirklichkeit wäre ich glücklich verheiratet und er soll die Ehe nicht scheiden. Und dieser Richter, der hat gesagt. So was hat er noch nie in seinem Leben gehabt – er zeigt mir mal diesen Brief, ich soll doch mit ihr sprechen."

Helga Schubert erzählt mir, dass sie deshalb so gerne den Gospel "Nobody knows the trouble I´ve seen" von Mahalia Jackson hört. Weil sie glaubt, dass das ihr Lied ist. Dass da ganz viel "trouble", ganz viel Schmerz in ihr ist, den niemand ermessen kann, nur Gott allein, dem sie sich anvertraut: "Nobody knows the trouble I´ve seen, but He knows my sorrow." Weil ihre Mutter sie immer wieder verletzt, hadert Helga Schubert mit dem vierten der Zehn Gebote.  Sie sucht auf einer Insel Kontakt zu einer Kurpastorin und vertraut sich ihr in einem Seelsorgegespräch an. Sie erinnert sich noch genau an diese Begegnung, als sie der Kurpastorin gegenübersitzt:

"Ich möchte als Christin das vierte Gebot erfüllen. Und das ist der Grund, dass ich jetzt zu Ihnen gekommen bin. Wie ist denn Ihrer Meinung nach das vierte Gebot? Ich hab gesagt: 'Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben, auf dass es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden.' 'Ja', sagt sie, 'da haben Sie einfach nur ein Verb falsch erinnert: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren und das kann man mit Absicht machen und lieben ist freiwillig. Und ihre Mutter ist auch nicht gezwungen, sie zu lieben.' Diese Frau hat mir unglaublich geholfen."

Denn ehren, das schafft sie. Und so gibt ihr der Glaube auch Kraft, um Frieden zu schließen – mit ihrer Mutter und mit sich selbst. In "Vom Aufstehen" beschreibt sie, wie sie ihrer sterbenden Mutter auf der Intensivstation der Evangelischen Klinik beisteht:

"Ich saß mit dem linken Ellbogen aufgestützt an ihrem Intensivbett. Sie drückte meine Hand zweieinhalb Stunden fest. […] Ich sagte zu meiner Mutter: 'Ich verdanke dir, dass ich lebe, es ist alles gut.' Heute, vier Jahre später, würde ich noch etwas hinzufügen: 'Ich danke dir, dass du mir von klein an so viel von 1933 erzählt hast, wie alles kippte, von euerm Geschichtslehrer, der im Unterricht plötzlich sein Jackett auszog, und darunter war das Braunhemd, von eurem Erschrecken, weil deine Freundin doch eine Jüdin war. Ich danke dir, dass du dich so schämtest, weil du eure Lehrerin nicht mehr besuchtest nach ihrer Entlassung, und dann wohnte sie nicht mehr am Bahnhof Grunewald. Ich danke dir, dass du abends mit mir, als ich ein Kind war, im russisch besetzten Sektor Berlins den RIAS hörtest, den Rundfunk im amerikanischen Sektor, und mir alles erklärtest: Im Westen sagen sie es so, und hier im Osten in der Zeitung und in eurer Schule sagen sie das Gegenteil, und es ist zum Teil gelogen."

Ob sie sich denn auch von der DDR verraten gefühlt habe, will ich von Helga Schubert wissen. Nein, bei einem Verrat werde man ja getäuscht. Ihr sei aber von klein auf immer klar gewesen, was das für ein Unrechtsregime war:

"Das verdanke ich meiner Mutter – sie ist sehr, sehr politisch klar gewesen in ihrer Ablehnung der SED, war auch nie Mitglied der SED, also meiner Mutter verdanke ich diese politische pro-demokratische Haltung […] und da war ich sehr früh eigentlich vorgewarnt, dass man sehr vorsichtig sein muss. Und dann hab ich auch in der Staatssicherheitsakte, die über mich geführt worden ist wegen staatsgefährdender Hetze und Diversion, seit 1976 haben sie gegen mich ermittelt. Da hat dieser Leiter dieser Untersuchung gegen mich reingeschrieben in meine Akte: Es ist trotz jahrelanger Bemühung nicht möglich in das Privatleben – also keine Verräter – der Schubert einen informellen Mitarbeiter zu platzieren. Das bedeutet: Im Privatleben konnte keiner rein."

Der Fall der Mauer war dann wie eine Erlösung, erzählt sie. In der Nacht vor dem 3.Oktober 1990 wird sie zu einer Diskussionsrunde des Süddeutschen Rundfunks eingeladen. Sie soll als Intellektuelle schildern, wie sie die Wiedervereinigung sieht. Und hat dann auch einen Musikwunsch frei, an den sie sich in ihrer Erzählung "Meine neuen Schuhe" erinnert:

"Und als Musik wünschte ich mir den Gospelgesang von Mahalia Jackson, den ich mir kurz vorm Mauerbau […] als 45-er Schallplatte in einem Laden am Kudamm gekauft hatte: Walk over God’s heaven mit der Zeile 'I got shoes, you got shoes', auf Deutsch fand ich es eben in meinem Smartphone: Der Lauf über Gottes Himmel: Ich habe Schuhe, du hast Schuhe, alle Kinder Gottes haben Schuhe, mein Herr, und wenn wir in den Himmel kommen, ziehen wir unsere Schuhe an, wir werden gehen, wir werden reden, überall im Himmel Gottes."

Helga Schubert hat die deutsche Einheit als ein Stück Himmel auf Erden erlebt. Und sie hofft dank ihres Glaubens an Gott auch auf einen Himmel, als einen Ort, wo ihr Mann und sie dann irgendwann geborgen sein werden, bei diesem "konstruktiven Prinzip", bei dieser Liebe, wie Helga Schubert Gott nennt. Der Mahalia Jackson Song, dass Gott im Himmel neue Schuhe schenkt, soll deshalb auch auf ihrer Beerdigung laufen, erzählt sie mir. Bis dahin aber schreibt und pflegt sie hoffentlich noch lange. Mit viel Passion. Und mit beiden Füßen und Schuhen auf der Erde.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Gregory Porter: All Rise, Titel: Faith in love

The Swingles: Deep End, Titel: After the storm

Mahalia Jackson: The Essential Mahalia Jackson

Titel: Nobody knows the trouble I´ve seen

Titel: Walk Over God´s heaven

Literatur:

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ungekürzte Ausgabe, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 213-233.

Helga Schubert: Meine neuen Schuhe, in: Vom Aufstehen. Ungekürzte Ausgabe, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 113-116.

Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über den Autor Christopher Hoffmann

Christopher Hoffmann, geboren 1985 im Hunsrück, ist Pastoralreferent und Rundfunkbeauftragter bei der Katholischen Rundfunkarbeit am SWR.  Nach dem Studium der Theologie in Trier und Freiburg und der Seelsorgeausbildung im Rheinland ist er aktuell in der Pastoral für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Raum Neuwied aktiv. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er am ifp in München. In seiner Freizeit liebt er Musik und singt seit vielen Jahren in verschiedenen Bands und Chören.

Kontakt: christopher.hoffmann@bistum-trier.de