Seit einiger Zeit gibt es ein neues Berufsfeld: den professionellen Aufräum-Coach – Menschen also, die mir beim Aufräumen und Entrümpeln helfen. Sie packen aber nicht wie die Umzugsunternehmen oder Trödeltrupps mit an und erledigen alles für mich, sondern wollen mir mit Tipps und System Hilfen anbieten, wie ich selbst beim Aufräumen klar kommen kann. Offenbar gibt es dafür einen Markt.
Die Japanerin Marie Kondo hat dazu eine eigene nach ihr benannte Methode entwickelt, wie das mit dem Aufräumen gelingen kann. Das zugehörige Buch wurde ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Wer das entsprechende Geld investieren will, kann sich von einer professionellen Beraterin oder einem Berater zertifizierte Hilfe nach dieser Methode nach Hause kommen lassen. Die zentralen Anregungen der "KonMari-Methode" finden sich aber auch im Netz. Eine davon ist, dass ich jedes Stück, das ich da so im Lauf der Zeit angesammelt habe, einzeln danach bewerte, ob es mich glücklich macht. Wo das Glücksgefühl ausbleibt – das kann dann weg: der alte Pulli, die Ramsch-Kiste im Keller, die Zeitschriftensammlung auf dem Dachboden.
Gerade jetzt, zum Frühjahrsputz, kommen ja die guten Vorsätze vom Jahresanfang wieder: Endlich mal aufräumen, klar Schiff machen, Ordnung schaffen. Die gute Nachricht für alle, die es in den bisherigen sieben Wochen des Jahres noch nicht geschafft haben und es nochmal probieren wollen: Gerade hat wieder die Fastenzeit begonnen. Sieben Wochen bis Ostern. Eine neue Chance.
Ich merke bei mir, dass es beim Aufräumen oft nicht nur darum geht, wie der Staub weniger wird und die übervollen Keller oder Dachböden wieder mehr Licht sehen. Genausowenig geht es ja beim Fasten nämlich nur vordergründig um das Abnehmen. Ich glaube, beide Male steht eine Sehnsucht dahinter. Es geht darum loszulassen, leichter zu werden, Neues zu erschließen – letztlich: glücklicher zu werden, mehr Leben zu spüren. Ob das religiös motiviert ist oder gesundheitliche Ziele verfolgt – die Muster ähneln sich. Und so gibt es beim Frühjahrsputz und bei der Fastenzeit einige Gemeinsamkeiten; vielleicht liegen beide auch deshalb zeitlich so nah beieinander. Und weil es so manche Gemeinsamkeit gibt, können die professionellen Aufräum-Tipps vielleicht auch im übertragenen Sinne eine Hilfe sein. Ich will es mal versuchen – sozusagen mit einem Aufräum-Coaching für die Fastenzeit.
In einer Bilder-Ausstellung von Menschen mit psychischen Erkrankungen habe ich einmal einen speziellen Aufräumtipp gesehen – einen für die Seele. Unter einem Bild, das ein unaufgeräumtes Zimmer zeigte, stand da zusammengefasst:
"Als Kind gab es für mich zwei Arten, aufzuräumen: Das normale Aufräumen, bei dem die herumliegenden Dinge einfach an ihren Platz zurückgestellt wurden, und das richtige Aufräumen. Das richtige Aufräumen bestand aus zwei Phasen: In der ersten Phase wurden sämtliche Gegenstände aus den Fächern und Schubladen gerissen und wild durcheinander auf den Boden geworfen. In der zweiten Phase habe ich mir eine neue Ordnung überlegt und alles wieder einsortiert. Beides zusammen hat meist mehrere Tage gedauert. Irgendwann habe ich mir abgewöhnt, so aufzuräumen (...). Zu Beginn meines Aufenthalts in der Tagesklinik habe ich mich daran zurückerinnert. Hier zu sein fühlt sich an, als würde ich richtig aufräumen – das Zimmer, das in mir ist, nicht das, in dem ich bin." [1]
Das Zimmer in mir aufräumen. Vielleicht ist das noch herausfordernder als das Zimmer aufzuräumen, in dem ich gerade bin. Aber auch dazu hilft die Fastenzeit. Da geht es ja in der religiösen Ausrichtung auch um die großen Ordnungsfragen im Leben: Was ist da alles durcheinander gekommen? Was braucht eine neue Ordnung, einen neuen Platz, eine neue Bedeutung in meinem Lebensalltag? Was hat sich Belastendes angehäuft und müsste mal entrümpelt werden – oder wenigstens entstaubt? Was kann definitiv weg, weil es mir zu schwer auf der Seele liegt. Und wie spüre ich dann das Leben?
Beides passt zusammen: Das Aufräumen im äußeren und das Aufräumen im inneren Zimmer. Manchmal ist die äußere Unordnung ja nur ein Spiegel der Seele, ein Spiegel des inneren Durcheinanders. Dann ist es umgekehrt aber auch so, dass ich mit dem äußeren Aufräumen auch ein bisschen mehr Klarheit im inneren „Zimmer“ der Seele bekommen kann. Da können die professionellen Aufräum-Coach-Tipps helfen – wenn ich sie in mein inneres Aufräumen übersetze:
"Erstens: Mit dem kleinsten Zimmer anfangen,
Zweitens: Alles auspacken und sich einen Überblick verschaffen,
Drittens: Nur zehn Minuten am Tag,
Viertens: Loslassen, wegwerfen, verschenken,
Fünftens: Den Dingen einen neuen Platz geben,
Sechstens: Entdecken, was Neues entsteht."
Aber der Reihe nach, Schritt für Schritt. So könnte das Aufräumen in der Fastenzeit gelingen:
"Mit dem kleinsten Zimmer anfangen."
Ich kann nicht das ganze Haus auf einmal aufräumen. Übertragen bedeutet das: Ich kann nicht die ganze Welt auf einmal retten, nicht alle Probleme auf einen Schlag lösen, auch nicht meine eigenen. Im kleinsten Zimmer anfangen. Das gilt auch beim inneren Aufräumen: In mir sind ja auch im übertragenen Sinn ganz viele Zimmer: Mein aller privatestes Zimmer, also das, was mich ausmacht, meine Sehnsüchte und Bedürfnisse; und dann mein Beziehungszimmer: die Beziehungen zu den Menschen um mich herum, Freunde und Familie; auch mein spirituelles Zimmer, meine Beziehung zu Gott; und in diesem übertragenen Sinn auch: mein berufliches Zimmer, das meine Arbeitskontexte enthält; mein Finanzzimmer mit meinen Abhängigkeiten; mein Hobby-Zimmer: das, was mir Spaß macht; und vielleicht auch mein inneres Keller- oder Dachboden-Zimmer, in dem ich so manches verstaut habe, was ich lieber wegpacken würde in meinem Leben; was mich belastet: schlechte Erfahrungen, quälende Beziehungen; das Päckchen, das jeder und jede zu tragen hat im Leben.
Im Inneren von mir und einem jeden und einer jeden gibt es viele und noch mehr solcher Zimmer, die mal wieder aufgeräumt werden könnten. Mit dem kleinsten Zimmer anfangen, heißt also: Das anzugehen, was mir leicht fällt: nicht gleich den großen, jahrealten Konflikt anpacken; aber vielleicht einen alten Freund mal wieder anrufen, mit dem der Kontakt eingeschlafen ist. Auch das kann ja ein inneres Sortieren und Aufräumen sein. Das schafft schon erste Erfolgserlebnisse und motiviert für Schritt 2 beim inneren Zimmer-Aufräumen.
"Alles auspacken – und mir einen Überblick verschaffen."
Dieser Tipp ist in fast allen Aufräum-Ratgebern zu finden: Ich brauche den Überblick. Ich muss erstmal alles aus dem Schrank rausnehmen, auf einen großen Haufen werfen, um zu sehen, was sich da alles angesammelt hat. So ist es auch im inneren Zimmer: einmal Kassensturz, einmal alles zusammentragen. Beim inneren Zimmer ist es aber nicht so konkret-greifbar wie mit einem Pulli oder einem alten Buch oder einer Kiste mit allerlei Dies und Das. Vielleicht hilft da ein Zettel für mein inneres Zimmer, auf dem ich aufschreiben kann: Was schleppe ich alles mit mir rum, das mir zur Last geworden ist? Aber auch: Was habe ich an Talenten geschenkt bekommen und vielleicht nie genutzt? Was horte ich an Sorgen, Gedanken und Vorgaben von außen? Hier geht es noch nicht gleich um eine Bewertung. Nur eine Bestandsaufnahme, was ich in meinem inneren Zimmer so alles angesammelt habe. Da kommt schon einiges zusammen. So eine Bestandsaufnahme braucht Zeit.
Wenn ich also beim Aufräumen im inneren Zimmer erstmal alles auf einem großen Haufen vor mir ausgebreitet habe, kann es weitergehen. Und da gehören die Aufräumtipps drei und vier zusammen:
"Nur zehn Minuten am Tag. Und: Loslassen, wegwerfen, verschenken."
Der große Haufen, der sich beim Aufräumen auftürmt, kann mir regelrecht über den Kopf wachsen. Auch im inneren Zimmer. Da hilft der gute Rat, es nicht gleich auf einmal lösen zu wollen: Nur zehn Minuten Aufräumen am Tag – aber täglich. Das bringt selbst den größten Sorgen-Berg zum Schmelzen. Wenn ich täglich eine kleine feste Zeit dafür freihalte, dann geht es einfacher, ob morgens, in der Mittagspause oder am Abend.
Und das Zweite: Konsequent loslassen, wegwerfen, verschenken: Wie sich in den übervollen Kleiderschränken nur wieder Licht zeigt, wenn ich aussortiere, loslasse und hergebe, so ist es auch im inneren Zimmer: Was ich nicht brauche, schon lange nicht mehr genutzt oder noch nichtmal angesehen habe, woran mein Herz nicht hängt, das kann weg. Was mich belastet ohnehin: Toxische Beziehungen, Süchte, das Getrieben-Sein von letztlich Unwichtigem, meine Wut auf Dinge, die ich doch nicht ändern kann: sich darin nicht zu verbeißen, sondern loszulassen, um frei zu werden.
Das ist ja auch ein Sinn der Fastenzeit: Ballast abzuwerfen – das ist mehr als nur Kilos auf der Waage zu verlieren. Wenn ich zudem Vergebung erfahre, wo ich schuldig geworden bin, wenn ich aus dem Sorgen-Karussel der Gedanken aussteigen kann, fällt mir ein Stein vom Herzen, entlastet das die Seele. Wenn ich loslasse, kann ich dann auch frei werden für die nächsten Schritte:
"Dingen einen neuen Platz geben. Entdecken, was Neues entsteht, sehen, was mich glücklich macht."
Wenn ich schon soweit bin im Aufräum-Coaching für die Fastenzeit, ist es bald geschafft. Ich muss sozusagen nur noch die Ernte einfahren. Das, was ich noch unbedingt brauche, sortiere ich neu ein. Gebe ihm einen guten, verlässlichen Platz in meinem Leben: meine Familie und Freunde, meine Hobbies, mein Gottvertrauen. Auch das, was vielleicht nicht unbedingt schön, aber wichtig ist, bleibt noch: mein Berufsleben, meine Gesundheit. Und was ich dabei nicht ändern kann. Was ich hinnehmen muss. Aber es ist jetzt klar zugeordnet, sortiert. Gewichtet. Und befreit von unnötigem Ballast.
Was mich glücklich macht, behalte ich und gebe ihm einen Ehrenplatz im inneren Zimmer: Das, was ich gerne mache, wo ich Lust und Freude spüre, was mich motiviert, was meine Sehnsucht anspricht: Das kann ein Foto sein oder ein Mitbringsel aus dem Urlaub; das kann auch mein Terminkalender sein, in dem ich bewusst einen regelmäßigen Platz für ein Treffen mit Freunden freihalte – oder auch für die so genannte „Me time“, Zeit für mich, weil es mich glücklich und frei macht, eine Tasse Tee mit Blick aus dem Fenster, ein interessantes Buch, ein Musikstück, ein Saunabesuch, oder auch Meditation und Gebet.
Wenn ich mich trenne von dem, was mich nicht glücklich macht, lichtet sich das Chaos. Das wissen die Aufräum-Coaches – und das gilt auch in meinem inneren Zimmer. Es wird lichter und heller; es ist plötzlich mehr Platz entstanden. Das ist Frei-Raum, im wahrsten Sinn des Wortes. Es schafft neue Möglichkeiten, die ich mir gönne. Es klingt so einfach. Und doch tue ich mich da immer wieder schwer damit.
Deshalb hab ich noch einen weiteren Tipp gefunden. Der braucht nicht viel Zeit; vielleicht nur die zehn Minuten am Tag, die ich mir freihalten wollte zum Aufräumen im inneren Zimmer. Es ist eine Gedankenübung, die aus der christlichen Spiritualität kommt, vom Heiligen Ignatius. Mehr als 400 Jahre alt und doch aktuell ist sein Tipp für einen Tagesrückblick, das „Examen“, mit dem ich meinen Tag sortieren und den neuen Tag geordnet angehen kann. Und das geht so:
"Ich werde still und spüre meinen Atem.
Ich stelle mich Gottes Gegenwart und bitte ihn um einen ehrlichen Blick.
Ich schaue auf den Tag, verweile, wo ich angesprochen bin.
Ich danke Gott für alles, was gut war und bitte ihn um Verzeihung für alles Ungute.
Ich vertraue Gott meine Pläne für Morgen an – gebe ab, lasse los und empfange neu."
Dieser Tagesrückblick heißt auch „Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“. Es ist eine christliche Anleitung, um das „innere Zimmer“ der Seele aufzuräumen – liebevoll und aufmerksam. Jeden Tag neu. Die bewusste Dankbarkeit für das, was gut gelaufen ist, bringt dann neue Motivation für den nächsten Tag. Wer einen äußeren Anlass sucht, das mal auszuprobieren, zudem zeitlich überschaubar, für den bietet sich die Fastenzeit jetzt an. Die wird dann zur Trainingszeit für Ostern, nicht nur sportlich, sondern vor allem auch spirituell.
Der katholische Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini hat einmal beschrieben, wie das Fasten und die Fastenzeit sich innerlich auf den Geist auswirken können. Übertragen: Wie das Aufräumen zur inneren Ordnung führen kann – und neue Räume eröffnet:
"Zuerst wird nur der Mangel gefühlt; dann verschwindet das Verlangen nach Nahrung. Zugleich geht beim Fasten etwas Innerliches vor sich. Der Körper wird gleichsam aufgelockert. Der Geist wird freier. Alles löst sich, wird leichter, Last und Hemmung der Schwere werden weniger empfunden. Die Grenzen der Wirklichkeit kommen in Bewegung; der Raum des Möglichen wird weiter." [2]
In der Fastenzeit geht es nicht um Verzicht um des Verzichts Willen, nicht um Kasteien oder Quälerei – sondern darum, Freiräume zu erfahren, die gelöst und glücklich machen, die leben lassen. Solche freien Räume kann ich durch das Aufräumen des inneren Zimmers schaffen. Damit es dort wieder heller und klarer wird.
Und das wiederum ist die frohe Botschaft von Ostern: Da feiern Christen die Auferstehung Jesu von den Toten; das Durchbrechen des Todesdunkels; den neuen Freiraum des himmlischen Lebens, die Erlösung von niederdrückender Schuld und Belastung. Ostern schafft eine neue Ordnung. Vielleicht können die Aufräum-Tipps für die Seele da helfen, um lebendige österliche Freude zu erfahren. Schließlich geht es an Ostern um nicht mehr und nicht weniger als um ein Leben in Fülle.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Passagio, Ludovico Einaudi, Lavinia Meijer (Harfe), Track: 9, Passagio, Länge: 4:15 / davon gespielt: 1:48' , Sony Classical 2014, EAN 8 88837 840828
Undiscovered. Ludovico Einaudi, CD 1, Track 10: Resta con me, Länge: 4:56, davon gespielt 2:00‘ Decca, EAN 0028948197491
Teresa von Avila. Mystische Klänge, Texte und Gitarrenmusik aus dem XVI. Jhd, Sagardoy, Antonio, Rath, Christine (Gitarre), Titel 10, Fantasia XVI Länge: 2:25; davon gespielt: 2:23 Verlag christliche Innerlichkeit EAN: 9120017512103
Teresa von Avila. Mystische Klänge, Texte und Gitarrenmusik aus dem XVI. Jhd, Sagardoy, Antonio, Rath, Christine (Gitarre), Titel 18, Nada te turbe, Länge: 2:51; davon gespielt: 2:45, Verlag christliche Innerlichkeit, EAN: 9120017512103
[1] Luca Maria, “Richtig Aufräumen”, Ausstellung im Rahmen des Projektes “48 Stunden Neukölln” am 25. Juni 2023.
[2] Romano Guardini, Predigten zum Kirchenjahr, Matthias-Grünewald Verlag, 1998, ISBN 978-3-7867-2066-9.