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Wie widerspenstig darf Kirchenmusik sein? Kurt Grahl: Kirchenmusiker und DDR-Oppositioneller

Feiertag, 19.03.2023

von Guido Erbrich

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Am 30. Mai 1968 um 9.28 Uhr läuten in Leipzig alle Kirchenglocken. Dann detonieren zwei Tonnen Dynamit. Auf Geheiß des SED-Regimes wird die spätgotische Universitätskirche Sankt Pauli gegen alle Widerstände in Schutt und Asche gelegt. Sie hat den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden, ist aber den DDR Oberen ein Dorn im Auge.

Walther Ulbricht will ein neues sozialistisches Zentrum für seine Heimatstadt, da steht ihm die Kirche im Weg. Der letzte, der auf ihrer Orgel spielt, mitten im Staub und Lärm, während die Sprengmeister schon die Sprenglöcher bohren, ist Kurt Grahl. Damals Student in Leipzig. Bachs Toccata C-Dur. Erst als ihn ein Polizist rüde stoppt, hört diese Orgel auf zu spielen.

Kurt Grahl schreibt ein Kreuz an die Stelle der Partitur, an der er aufhören muss, steht auf und verlässt die Kirche. Heute sagt er rückblickend:

"Was Zivilcourage angeht – das ist die Frage. Hatte man die damals? Im Nachhinein sagt man, es war mutig, dass man immer wieder hingegangen ist oder noch einmal spielt, obwohl man weiß, die Polizei und die Staatssicherheit sitzen im Rücken. Aber als sie sagten, Sie müssen jetzt hier raus, da hat man keinen Sitzstreik gemacht. So mutig war man nicht. Man ist eher jeden Tag dahin gegangen, einfach um seinen Protest auszudrücken. Einen stummen Protest."

Kurt Grahl, 1947 geboren, wächst in Markneukirchen im sächsischen Vogtland auf. Schon mit 11 Jahren spielt Grahl in der kleinen katholischen Kirche während der Gottesdienste die Orgel. Seine Eltern und sein Pfarrer wollen dieses Talent fördern und schicken ihn als 14-jährigen nach Leipzig zu Georg Trexler, Professor an der Leipziger Musikhochschule und gleichzeitig Kirchenmusiker der Leipziger Propsteigemeinde Sankt Trinitatis. Er steckt den begabten Jungen in die Kinderklasse der Hochschule für Musik.

Anschließend, so der Plan, könne er das Abitur machen, und danach ein Kirchenmusikstudium beginnen. Aber die SED-Schulfunktionäre durchkreuzen diese Idee und verweigern dem jungen Kurt Grahl das Abitur. Dieser Junge war als katholischer Christ weder bei den Pionieren noch bei der FDJ, den DDR Kinder- und Jugendorganisationen. So einem will der Arbeiter- und Bauerstaat kein Abitur ermöglichen. 

Dann geschieht mithilfe seines rührigen Professors ein kleines Wunder. Nach der 10. Klasse beginnt der 16jährige – ohne Abitur – 1964 mit dem Musikstudium. Tasteninstrumente heißt sein Fach – ein wunderschönes Wort, hinter dem sich eine kirchenmusikalische Ausbildung verbirgt.

Widerspenstig gegen alles

Bald sitzt er an der Orgelbank der evangelischen Universitätskirche, wo die Leipziger Propsteigemeinde nach der Zerstörung ihrer Kirche im zweiten Weltkrieg Gottesdienste feiert und spielt die Orgel. Bis zu ihrer Sprengung 1968. Kurz danach gewinnt er als Student den III. Internationalen Leipziger Bachwettbewerb im Fach Improvisation. Als er zur Preisverleihung auf der Bühne steht, wird plötzlich ein Banner von der Decke der Leipziger Kongresshalle ausgerollt:

"Wir standen auf der Bühne und der Beifall war wirklich tosend. Ich stand da, verbeugte mich. Im Grunde, vor wem eigentlich? Ich bin dann runter und sah dieses Schild hängen. Da war klar, wem der Beifall galt. Ich stand wirklich eine ganze Weile allein mit diesem Schild 'Wir fordern Wiederaufbau'. So im Nachhinein schon erhebend."

Kurt Grahl beschreibt sich als "Widerspenstig gegen alles". Wobei widerspenstig bei ihm nicht einfach nur Opposition bedeutet. Er stellt Dinge in Frage und entscheidet nach den Kriterien, die ihm wichtig sind. Konflikten geht er nicht aus dem Weg, wenn er gute Gründe für seine Haltung hat. Manchmal so erfolgreich, dass andere den Konflikt mit ihm lieber meiden.

1969 beendet er sein Studium und wird dann bis 2012 in der katholischen Propsteigemeinde St. Trinitatis als Chorleiter und Organist angestellt. Von dort wird er die Kirchenmusik der DDR nachhaltig beeinflussen.

Als junger Kantor bricht er mit einer Tradition. Unter seinem Lehrer wird alljährlich zu Weihnachten die Krönungsmesse von Mozart aufgeführt. Denn allein die Noten dieses Werks hatten die Bombennacht 1945 unversehrt überstanden. Daraufhin hatte Professor Trexler geschworen, die Krönungs-Messe fortan jährlich aufzuführen. Als Kurt Grahl als 23-jähriger den Chor übernimmt lehnt er sich gegen diese Tradition auf.

"Ich war da sehr jung und man sagt ja uns Vogtländern eine gewisse Widerspenstigkeit insgesamt nach. Als ich den Chor übernahm, der nur noch mit 30 Leuten sang, dachte ich, die Krönungsmesse mit so wenigen – aussichtslos. Ich nahm also die kleine Mozartmesse, die Missa D-Dur. Die ist wunderbar diffizil und mozartmäßig. Da ging ein Sturm in der Gemeinde los, vielleicht auch, weil ich noch so jung war. 'Weihnachten ohne Krönungsmesse? Was sie sich erlauben! Das ist doch kein Weihnachten. Das geht doch gar nicht.' – 'Das ist recht, dass sie mir das sagen, erwidere ich. Sie werden die nächsten zwei Jahre hier keine Krönungsmesse zu hören bekommen, ich hoffe, sie bleiben katholisch.' Also, das zu meiner Widerspenstigkeit in den Anfängen. Dazu gehört, dass man das Übernommene zwar nicht völlig wegkippt, aber zumindest mal in Frage stellt."

Propsteiorchester: Ein Raum der Freiheit

Mitte der 1960er Jahre ereignet sich in der katholischen Kirche eine Art Revolution: das Zweite Vatikanische Konzil: Latein ist über Nacht passè. Der Gottesdienst wird fortan in der jeweiligen Landessprache gefeiert und auch die Kirchenmusik muss sich umstellen. Dieser Aufgabe widmet sich Kurt Grahl voll und ganz.

Die Gemeinde bekommt Neues zu singen und zu hören. Kurt Grahl greift zu Notenblatt und Stift und komponiert selbst. Genau schaut er sich die Texte an, um die es geht. Und die Menschen, mit denen er sie singen wird. Die Propstei ist Ende der 1960er Jahre eine Großstadtgemeinde, die keine eigene Kirche hat und keine Orgel. Die waren ja im Zweiten Weltkrieg in Flammen aufgegangen und die Universitätskirche hatten die DDR Oberen in die Luft gejagt. So ist die Gemeinde jahrzehntelang in evangelischen Kirchen zu Gast. Der Lutherkirche, der Nikolaikirche, der Thomaskirche, der Peterskirche. Eine großartige jahrzehntelange ökumenische Gastfreundschaft. Grahl passte seine Kirchenmusik den unterschiedlichen Kirchenräumen an.

Als musikalischer Motor schreibt er für die jeweiligen Sonntage und Feiertage ständig neue Stücke. Ähnlich, wie es vor ihm die großen evangelischen Kirchenmusiker wie Schütz, Bach und Telemann getan haben. Weil es Sonntag für Sonntag gilt, dem Wort Gottes Melodien zu schenken.

"Und dann war aber klar, als 'ich entschlossen wurde' in Leipzig zu bleiben, hier hast Du weder eine Kirche noch eine Orgel, wir waren ja überall nur Gast. Ab dem Moment, wo ich das erste Mal einen Kinderchor vor mir sitzen sah, war klar, Orgel kannst du erstmal vergessen. Das braucht ein anderes Instrumentarium. Und das waren die Menschen. Damit kommen wir zum Thema zurück, ob widerspenstig oder nicht, es ging mir darum; mit meinen Mitteln, die ich ein bisschen verstehe, Gemeinde zu bauen. Nicht gleich Kirche, aber Gemeinde schon. Gemeinschaft entstehen zu lassen mithilfe der Musik."

Und das gelingt Grahl auf einzigartige Weise. Neben dem schon bestehenden Erwachsenenchor entstehen nun ein Kinder- und ein Jugendchor, sogar ein Kleinkinderchor und die Gruppe Sacro Song. Dazu immer wieder Projekte mit Leipziger Musikern, die ohne Honorare begeistert mitmachen. Mit dem Propsteiorchester gelingt Grahl ein echter Coup:

"Da saßen Musiker und Solisten vom Gewandhaus und den Leipziger Rundfunkorchestern, neben Hausfrauen, Angestellten und Schülern. Einige von denen, die in diesem Orchester groß geworden sind, sind heute Profimusiker in verschiedenen Orchestern bis hin zu Musikprofessoren."

Das alles passiert in Leipzig, der zweitgrößten Stadt der DDR. In einem System, das Christen aller Konfessionen klarmacht, sie passen mit ihrem Glauben nicht in dieses sozialistische Land. Hier Gemeinschaft entstehen zu lassen, wenn von außen so ein Druck herrscht, bedeutet weit mehr, als nur gute Chorarbeit zu machen. Und während innerkirchlich noch gestritten wird, was Kirchenmusik darf und was nicht, welche Instrumente in den Gottesdienst gehören, wie modern die Lieder sein dürfen, ob Chöre im Altarraum singen dürfen oder das alles verboten gehört, setzt Kurt Grahl all dies einfach um. Und so entsteht um die Propstei ein Raum der Freiheit und der Weite.

Musik nah am Leben und am Tod

Wenn Kirchenmusiker Kurt Grahl komponiert, sucht er zuerst einen Text, eine Aussage, die er zum Leben erwecken – erst dann beginnt er mit der Musik.

"Das war für mich völlig klar. Mal ganz abgesehen davon, dass im Anfang das Wort war. Das Wort ist doch das, woraus die Botschaft besteht. Ganz lapidar. Und durch die Musik, wollte ich diesem Wort eine Kleidung, ein Hemd, was auch immer geben und subjektiv das weitergeben, was ich eben fühle, bei diesen Wörtern. Das ist eine Musik, wo man die Seele auf den Tisch legt."

Ein Text, der ihn besonders berührt ist: "Von guten Mächten wunderbar geborgen", den Dietrich Bonhoeffer 1944 wenige Monate vor seiner Hinrichtung im Gefängnis schreibt.

Kurt Grahls Vertonung wird zu einer der bekanntesten Melodien des Bonhoeffer-Textes. Dabei nimmt er anfangs nur den eben gehörten Liedrefrain für ein "Sacro-Song–Programm" mit Texten verschiedener Autoren. Verbindendes Element ist eine Änderung der Sehweisen:

"Menschen, die aus dem Glauben leben, sehen tiefer,
Menschen, die aus der Hoffnung leben, sehen anders,
und Menschen, die aus der Liebe leben, sehen alles in einem anderen Licht".
"In dem Programm sang meine Frau Agnes einen Text, der überschrieben war mit: 'Bitte im Sterben'. Diese Geschichte wurde uns dann später so nah."
"Nah am Leben ist auch nah am Tod.
Lass uns nicht fallen, wie die Blätter im Herbst.
Lass uns nicht fallen, nicht versinken ins Nichts, ins Vergessen.
Lass uns nicht untergehen, denn Du bist der Herr.
Doch wenn du es willst, dann lass uns fallen,
lass uns fallen wie der Regen aufs Land,
lass uns fallen in deine Hand, denn du bist der Herr."

Diese Zeilen erinnern an eine Passage des Bonhoeffertextes, in dem es heißt:

"Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand."

Kurt Grahl ringt bis heute mit diesem Text.

"Ich kenne Menschen, denen kommt diese Zeile nicht über die Lippen. Wenn die Hand gut ist, dann kann man sie auch annehmen, nur wen sie womöglich nicht gut ist, dann sind wir enttäuscht. '…Ach, wir sind schon Zweifler bis wir unsere Augen zumachen, also ich jedenfalls. Das Umfeld, was dieses Lied angeht, ist mit Vorsicht zu genießen.' Wir haben dieses Programm sehr oft gespielt. Dass uns der Text als Familie zehn Jahre später einholte und meine Frau wirklich starb, das hat in diesen Momenten keiner gedacht. Aber wenn man von Dingen singt, muss man damit rechnen, dass sie einen irgendwann einholen."

Kurt Grahl verliert seine Frau Agnes, später auch seine Tochter Kristina. Beide waren begnadete Musikerinnen, auch mit ihnen hat er "Von guten Mächten" oft gesungen. Seine Fassung gehört zu den zwei Liedern von Kurt Grahl, die heute im Katholischen Gesangbuch Gotteslob stehen. Das zweite ist "Wenn das Brot, das wir teilen als Rose blüht". Beide Lieder handeln von Vertrauen, von Liebe, auch von Leid und Tod. Die Liedtexte sind eingebettet in Melodien, die Hoffnung schenken. Die trotz aller Zweifel davon singen: Der gute Gott geht alle Wege mit uns mit. In Jesus Christus hat sich Gott gezeigt – uns Menschen zugewandt.

"Alle meine Musik geht von einer Theologie aus, die ich ein Leben lang verfolgt habe: dass wir diesen Jesus suchen, in allem, in der Musik, den Texten – und dem Nachspüren. Und dabei an diese Stelle kommen: 'ER ist der Weg für uns, die Wahrheit und das Leben!' Alles andere ist völlig wurscht. Besonders in der DDR – denn die existierte ja damals noch. Für diese Musik gab es für mich immer einen herrlichen Menschen im Hintergrund, das war Claus Peter März."

Der Alltag der DDR geht durch die Orgelpfeifen

März kommt 1971 als Kaplan in die Propstei. Sie werden lebenslang Freunde. März, schreibt die Texte, Grahl die Musik. Bald werden sie als Gemeinschaft gesehen, gestalten frei und modern Liturgie. Natürlich kommt Kritik. Der begegnen sie selbstbewusst mit theologischer Kompetenz oder ignorieren sie einfach.

Auf der Orgel legt Kurt Grahl Geschichte und Gegenwart auf dem Hintergrund der biblischen Botschaft aus. Bei der ökumenischen Jugendgebetsnacht in der Leipziger Nikolaikirche improvisiert er dabei auf die Melodie der DDR-Hymne. Die Ironie und Kritik am real existierenden Sozialismus klingt in Grahls Spiel deutlich hörbar mit. Ein Land, das von Idealen, von Frieden und Gleichberechtigung schwadroniert, sich demokratisch nennt, sich eingemauert hat; Andersdenkende verfolgt und die Freiheit fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Hier blitzt Grahls Widerspenstigkeit auf. Hier braucht er keinen Text, ihm reicht das tägliche Erleben der DDR und das jagt er durch die Orgelpfeifen.

"Über Improvisation zu sprechen ist schwer. Weil es eine Augenblicksache ist. Man nimmt sich ein Thema vor, ich meine jetzt ein Wortthema, und bildet aus diesem Wortgeflecht dann Motive. Und da passiert dann vieles, bei mir wahrscheinlich fast alles, unbewusst. Es geht dann halt einfach. Das spielt dann aus einem heraus."
"Aber das für mich eigentlich größte an Kirchenmusik waren nicht die großen Konzerte, das größte war immer die Gemeinde zu begleiten als Organist. Herrlich, wenn dann auch der Chor mitsang und auch die Orgel all das ausdrückte, was wir gerade feierten. Es war immer etwas ganz Spezielles mit der Gemeinde zusammen zu spielen und - das klingt jetzt vielleicht ein wenig hochtrabend – betend zu singen. Darüber geht eigentlich nichts."

In Ostdeutschland gab es im Radio eine kirchliche Sendung. Die sonntägliche Morgenfeier auf Radio DDR. Zu denen, die sie mitgestalten durften, gehörte Kurt Grahl mit seinen Ensembles. Natürlich gingen Texte und Musik der geplanten Sendungen schon Wochen vorher zur Zensur.

Kurt Grahl fand dafür immer wieder Texte, auch von westdeutschen oder österreichischen Autoren. Deren Bücher kamen oft heimlich über die Grenze. Auf Autorenangaben verzichtete Grahl dann. Manche Texte passierten auf diese Weise tatsächlich die Zensur. So wie dieser:

"Jesus unglaublich glaubwürdig,
Gefragt und fraglich für viele.
Der den Zweiflern zu denken gibt, der die Selbstsicheren irritiert.
Der Fragen nicht verbietet, sondern fordert.
Und der die Wahrheit nicht bewahrt, sondern bewährt. 
Jesus, der seinen Weg geht von Bethlehem bis Jerusalem,
von der Krippe zum Kreuz, der dort den Weg anbahnt, wo kein Ausweg scheint,
und der die Kluft zwischen Gott und Mensch überwindlich macht.
Wem sollten wir glauben, wem, wenn nicht Dir?"  (Josef Dirnbeck)

Das war in der DDR starker Tobak.

"Jemand der Fragen nicht verbietet, sondern fordert. Wem sollten wir glauben, wenn nicht dir?"

Die Musik wird zur Schmuggelware

Die Hörerinnen und Hörer in der DDR waren es gewohnt, zwischen den Zeilen die Ohren zu spitzen. Mancher Zensor hatte das dagegen nicht bemerkt, hatte vielleicht auch wenig Lust, argumentativ dagegen vorzugehen. Kurt Grahl und Claus Peter März schafften auch, dass ihre Musik im Westen Deutschlands auf Platten erschien. Unerlaubt.

"Die Aufnahmetechnik hatte der Toningenieur beim Rundfunk, Lothar Thomalla, heimlich übers Wochenende aus dem Funkhaus mitgenommen, was schon mal strafbar war. Die Aufnahmen entstanden im Keller. Und damals waren das ja Unmengen von Geräten, Mischpult, Kabel, Verstärker, Mikrophone und Bandmaschinen. Die fertigen Bänder wurden dann von einem Musiker aus Duisburg, am Körper versteckt in den Westen geschmuggelt."

Auf diese Weise wurden einige Platten in Leipzig produziert und im Westen veröffentlicht. Eine Platte wurde gar im Schlafzimmer der Familie Grahl aufgenommen. Im besten Sinne widerspenstig loteten die Musiker, Sängerinnen, Techniker und Kuriere mutig Lücken im geschlossenen System der DDR aus und nutzen sie. So entstand 1982 auch das Werk "Schließt keinen Frieden mit dieser Welt". Grahl/März überschrieben die 15 Stücke schlicht mit Meditationen.

Der Inhalt war in der DDR politischer Sprengstoff. "Wann werden Menschen neue Wege gehen?" und "Wenn es viele sind, die ihre Stimme erheben", lauten einige der Titel. Das aufrüttelnde und mutmachende Werk, das zur Zeit des kalten Krieges und der Hochrüstung entstand, ist heute wieder bedrückend aktuell.

"Schließ keinen Frieden mit dieser Welt", Thomalla/Grahl

Leise Widerspenstigkeit auch in der Rente

2012 geht Kurt Grahl 65jährig in Rente. Er spielt eine letzte Vorabendmesse und verabschiedet sich in der Sakristei. Er bleibt aktiv, komponiert, gibt Bücher heraus zum neuen Gotteslob und schreibt Liedern zu Texten von Huub Osterhuis. Seine Musik, so stellt er lakonisch fest, wird kaum gespielt. Trotzdem, er hat eine klare Vorstellung davon, was Kirchenmusik für ihn in erster Linie war und heute noch ist.

"Einfach Liturgie zu machen. Und zwar, wie das Konzil sagt, eine Liturgie, die dem Ort, der Zeit, den Gegebenheiten, den Teilnehmenden entspricht. Und daraus ergibt sich eine Kirchenmusik, die immer den Menschen, die da sind, die vor Ort sind, etwas sagt. Vielleicht sag ich es mal mit einem großen Wort: Liturgie ist eine Bindung in der Freiheit – oder die Freiheit an die Bindung. Und in dieser Bindung habe ich die Freiheit, Dinge in den Gottesdienst einzubringen, die sich dem Gottesdienst unterordnen und dann ihre textliche und musikalische Aussage machen."

Die Widerspenstigkeit von Kurt Grahl ist nicht laut. Sie findet sich in einem kompromisslosen Einsatz für das Wort Gottes und in der Musik, die diesem Wort das Kleid gibt, wie er selbst sagt. Seine eigene Musik biedert sich nicht an, ist nicht immer gefällig. Aber sie zeugt von dieser ständigen Auseinandersetzung mit der radikalen Botschaft Jesu und verliert dabei die Hoffnung nicht aus dem Blick.

"Wenn Kirchenmusik sich an dem Wort Jesu orientiert und die Situation in der Welt sieht, dann wird sie von allein widerspenstig. Weil Jesus auf die Welt gekommen ist, dass der Mensch heil wird. Jesus ist mit dieser heilbringenden Zusage gekommen. 'Meinen Frieden gebe ich euch' – Darauf jetzt zu hören, was sein Friede ist und davon zu singen und zu spielen: Das ist Widerspenstigkeit in der Kirchenmusik."

Übrigens steht 49 Jahre nach ihrer Sprengung die Universitätskirche St. Pauli wieder am Leipziger Augustusplatz. Als der neu errichtete Kirchraum am 1. Dezember 2017 eröffnet wird, setzt sich Universitätsorganist Daniel Beilschmidt an die Orgel. Die ersten Töne der Orgel erklingen: Johann Sebastian Bachs C-Dur Toccata. Ab genau der Stelle, an der 49 Jahre vorher Kurt Grahl aufhören musste zu spielen.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Johann Sebastian Bach - C-Dur Toccata

W.A.Mozart - Missa D-Dur KV194. Kyrie

Von guten Mächten - Kurt Grahl/Sacro song

C-Dur Toccata – gespielt von Daniel Beilschmidt.

Über den Autor Guido Erbrich

Guido Erbrich, geboren 1964, ist Vater von vier Töchtern. Er lernte den Beruf des Tontechnikers bei Radio DDR und arbeitete bis 1987 beim Sender Leipzig. Danach schloss er ein kirchliches Abitur in Magdeburg ab. Sein Studium der Theologie führte ihn nach Erfurt, Prag und New Orleans. Im Bistum Dresden-Meißen war Erbrich bis 2002 Referent in der Jugendseelsorge. Danach wechselte er als Studienleiter und Referent ins Bischof-Benno-Haus nach Schmochtitz. Bis 2010 leitete Erbrich die Katholische Erwachsenenbildung Sachsen. Von 2010 bis 2020 war er Leiter der Heimvolkshochschule Roncalli-Haus Magdeburg. Seit 2020 ist er der Senderbeauftragte der Katholischen Kirche für den MDR.

Kontakt: Guido.Erbrich@bddmei.de