Ein geheimnisvoller Klang nimmt mich gefangen, düster und leise, fast wie aus einer anderen Welt. Dann kommen Stimmen hinzu: "Selig sind, die da Leid tragen", singen sie. Klingt eigenartig! Selig sein und Leid tragen? Ausgerechnet die Leidenden sollen selig sein? Ja, ausgerechnet die Leidenden. "Denn sie werden getröstet werden", heißt es weiter (Matthäus 5,4).
Von Trauer erfüllt, aber nicht gelähmt, das ist die Botschaft des berühmten Requiems von Johannes Brahms. Ein bewegendes Chorwerk aus dem 19. Jahrhundert, bekannt für unwiderstehlichen Klangreiz und melodische Schönheit. Der Protestant Brahms nannte es ein "deutsches" Requiem. Gemeint war ein Oratorium in deutscher Sprache, im Unterschied zum lateinischen Requiem der katholischen Totenliturgie. Denn es sollte ausdrücklich keine Gedenkmesse für die Verstorbenen sein, sondern eine Hilfe für die Trauernden. Anhand von ausgewählten biblischen Zitaten will Brahms deutlich machen, dass vor allem die Hinterbliebenen des Trostes bedürfen.
Doch Brahms begnügt sich nicht damit, die Trauer in eine sehnsuchtsvoll-süße Melodie zu verpacken. Zur Klage über das Sterben gehört auch die nüchterne Einsicht, dass der Tod unausweichlich zum Leben dazu gehört. Deswegen folgt jetzt ein Trauermarsch, der es in sich hat, musikalisch und textlich. Fast schon fatalistisch und in großer Eindringlichkeit gibt der Chor, vor allem die Männerstimmen, mit einem Zitat aus dem Ersten Petrusbrief überaus bildreich zu bedenken, dass alles Leben eines Tages endet.
"Alles Fleisch, es ist wie Gras. Und alle Herrlichkeit des Menschen ist wie des Grases Blumen. Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen.“ (1 Petrus 1,24)"
Mehrfach erklingt das Motiv des verdorrten Grases, laut und fast schon bedrohlich, ein Gänsehaut-Moment. Aber wenig später entfaltet der Text auch ein Hoffnungsbild: "Seid geduldig...bis auf die Ankunft des Herrn" wird aus dem Jakobusbrief zitiert (Jakobus 5,7). Und schließlich gibt der Text die Begründung dazu, durch strahlende Musik unterlegt:
"Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen (...) mit Jauchzen; Freude, ewige Freude, wird über ihrem Haupte sein ... und Schmerz und Seufzen wird wegmüssen" (Jesaia 35,10)."
Sterben und Tod sind durch die Kriegsereignisse der letzten Zeit wieder näher ins Bewusstsein gerückt. Auch die Corona-Krise hat gezeigt, welche Gefahren für Leib und Leben plötzlich über unsere Welt hereinbrechen können. Doch was kann Trost über einen Verstorbenen am besten vermitteln? Worte sind wichtig. Aber noch besser ist es, Worte mit Musik zu verbinden. Denn Musik spricht unmittelbar das Gefühl an, sagt die Theologin Teresa Schweighofer, die sich intensiv mit Trauerritualen beschäftigt hat. Sie ist Professorin für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin:
"Musik kann in und mit Menschen ganz viel machen, es kann Erinnerungen wachrufen, es kann eben rotierende Gedanken besänftigen, Musik kann Emotionen evozieren oder auch kanalisieren, und beides kann in Trauerprozessen sehr hilfreich sein. Entweder, wenn man sich von Trauer gelähmt fühlt, ´nen Ort zu finden, dass das auch ´nen Ausdruck findet, das kann Musik, oder wenn man eben außer sich ist, kann Musik wieder dazu führen, dass man sich findet oder ´ne Form findet. Musik kann auch davon befreien, selbst Worte finden zu müssen und sich eben auch dieser Musik jenseits der Worte zu überlassen. Deswegen glaub ich, dass in so aufwühlenden und verwirrenden Zeiten Musik was ganz Wertvolles ist, wenn man dazu einen guten Zugang hat."
Ein Trost, der mich in Klänge hüllt wie in ein wärmendes Gewand, so hat ein Kritiker einmal über das Requiem von Brahms geurteilt. Besonders intensiv wird das erfahrbar im vierten Satz, wenn der Chor aus dem 84. Psalm zitiert: "Wie lieblich sind deine Wohnungen" (Psalm 84, 2.3.5). Die Vorstellung von den vielen Wohnungen bei Gott im Himmel geht zu Herzen. Brahms malt ein musikalisches Bild von inniger Anmut und großer Geborgenheit:
"Das geht ebenso von Verzweiflung, ebenso wie die Hoffnung auf Auferstehung, darauf, dass es den Verstorbenen gut geht. Und das Brahms-Requiem bringt diese ganze Breite an Emotionen und an Haltungen, die man zum Tod und was vielleicht möglicherweise danach kommt, einnehmen kann und sichtbar macht in seiner ganzen Breite."
Im darauffolgenden fünften Satz gibt es ein weiteres wirkmächtiges Motiv: Auf die Klage: "Ihr habt nun Traurigkeit", folgt das tröstende Wort der Mutter. Seit Kindheitstagen wissen wir: Ein Schmerz ist nur halb so stark, wenn die Mutter ihr tröstendes Wort spricht. Im Requiem zitiert eine Sopranstimme sanft und ausdrucksvoll, wie in einem Wiegenlied, den Propheten Jesaia, durch den Gott hier spricht: "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet" (Jesaia 66, 13). Ein starkes Bild für die weibliche Seite Gottes, findet Teresa Schweighofer, und erinnert zugleich an die Väter:
"Wir sind es gewohnt, von Gott als Mann zu denken, so sind wir in den meisten Fällen sozialisiert, und es ist biblisch eine der Stellen, wo Gott weibliche Attribute bekommt. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht auch Väter ganz gute Tröster sind, ich würde es an dieser Stelle tatsächlich weniger als eindeutige Zuordnung von Geschlechtern führen, muss man tatsächlich auch aus der Zeit heraushören und lesen. Aber dieses mütterlich oder väterlich getröstet sein, diese Erfahrung, jemanden zu haben, der einem garantiert, dass Dinge wieder gut werden, dass dieser Schmerz, diese Trauer nicht das Ende ist, sondern dass es ein Danach gibt, das ist das, was in diesem Satz ganz gut zusammengefasst ist."
Das Requiem von Brahms gleicht einer Achterbahn der Gefühle, und wird wohl auch deswegen so gut von Trauernden verstanden. Psychologen sprechen von verschiedenen Phasen der Trauer. Sie beginnen mit dem Nicht-Wahrhaben-Wollen des Todes; es folgen aufbrechende Emotionen, dann die Suche nach Antworten und schließlich das langsame Loslassen. Zuletzt können Trauernde einen inneren Frieden finden. Der Schmerz über den Verlust des Verstorbenen tritt in den Hintergrund, der Tod wird akzeptiert. Der Umschwung der Stimmungen wird besonders deutlich im vorletzten sechsten Satz. Mit einem Zitat aus dem Hebräerbrief stellt der Chor die Frage nach dem, was nach dem Tod kommt. Da heißt es: "Denn wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hebräer 13, 14).
Die Antwort, was nach dem Tod kommt, fällt turbulent aus, sowohl textlich als auch musikalisch. Denn jetzt kommt der Apostel Paulus zu Wort, der im Brief an die Korinther über das Geheimnis der Auferstehung der Entschlafenen spricht und dabei den Tod geradezu verspottet. Wenn am Ende der Tage die Posaune des Jüngsten Gerichts erschallt, dann, sagt Paulus, "ist der Tod verschlungen in den Sieg". Der Tod hat nicht das letzte Wort, sondern wird in triumphaler Geste zur Rede gestellt: "Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?" (1 Korinther 15, 52.54.55). Untermalt wird die Anfrage an die Wirkmacht des Todes mit zornigen und zerrissenen Melodiebögen und provozierenden Akkorden.
Die dynamische Bandbreite von stiller Trauer bis lauter Klage macht das Requiem von Brahms so geeignet als Angebot zur Trauerbewältigung. Denn es lädt ein, die Enttäuschung über den Tod auch hörbar zu beklagen, ja geradezu herauszuschreien. Eine Gefühlsregung, die wir von den Klageweibern in anderen Regionen der Erde kennen. Trauerexpertin Teresa Schweighofer plädiert für eine Wiederentdeckung dieser zutiefst menschlichen Gefühlsregung:
"Wir sind es in Europa gewohnt, Trauer möglichst zu zivilisieren, sie uns nur bedingt anmerken zu lassen, verglichen mit anderen Kulturen, die wir kennen, wo Trauer viel lauter und sichtbarer vor sich hergetragen wird, findet man Ausdruck von Trauer in Europa vielfach die schwarze dunkel Kleidung, und die Ruhe und die Stille, Totenstille. Und das ist die eine Seite; das brauchts manchmal auch, aber ich glaube, es würde uns an manchen Stellen auch guttun, Formen zu finden, wo man auch richtig laut sein kann, wo man Dinge auch wirklich aus Verzweiflung laut hinausschreien kann, das kann eine erlösende Wirkung haben. Und ich frag mich manchmal, wo sind die Orte, wo man so richtig laut schreien kann? Und deswegen würde ich mir an manchen Tagen auch wirklich wünschen, kirchlicherseits Orte zu haben, wo man laut schreien kann, sowas wie eine Klage- und Schrei-Kirche möglicherweise, gerade in urbanen Orten ist es gar nicht so einfach, einen Ort zu finden, wo man so richtig laut schreien kann, um dem auch einfach mal Ausdruck zu geben, und eben nicht immer nur zivilisiert und geordnet mit dem umgehen zu können."
"Herr du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft", zitiert nun der Chor aus der Geheimen Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel (Offb 4, 11). "Denn du hast alle Dinge erschaffen, und durch deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen". Es ist ein Gebet mit einer geheimnisvollen Botschaft: "Wir werden nicht alle entschlafen, sondern wir werden alle verwandelt werden" (1 Kor 15, 51).
Diese Vorstellung von der Verwandlung im Sterben ist die größte Zumutung der christlichen Auferstehungshoffnung. Nicht für jeden ist diese Botschaft nachvollziehbar, nicht jedem diese Glaubensüberzeugung geschenkt. Der Tod bleibt ein Geheimnis. Aber die biblischen und christlichen Jenseitsvorstellungen können Trost vermitteln. Eine solche Zuversicht ist jedoch nicht ohne weiteres herstellbar. Sie muss mir geschenkt werden.
Diese Haltung des Sich-Beschenken-Lassen durch den Tod kommt im letzten Satz des Brahm‘schen Requiems noch einmal zum Ausdruck. Hier werden nicht nur die Trauernden seliggesprochen, wie zu Beginn des Requiems. Sondern jetzt werden sogar die Toten seliggesprochen, wiederum mit einem starken Bild aus der Geheimen Offenbarung.
"Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben. (…) Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach“ (Offb 14,13)"
Von der Seligpreisung der Leidenden, über die Erkenntnis, dass das Sterben unausweichlich ist, bis hin zur Auflehnung gegenüber dem Tod und der Hoffnung auf eine Geborgenheit bei Gott, so weit reicht der Spannungsbogen des Brahms‘schen Requiems. Es ist ein episches Chorwerk, leise und andächtig, ergeben und demütig – und dann wieder laut und stürmisch. So wie unser Umgang mit dem Sterben und der Trauer. Die Musik lädt uns ein, der Traurigkeit Raum zu geben; sie rührt uns an und bringt die Seele ins Schwingen, mit allem Zauber der Poesie; erschütternd und besänftigend. So öffnet sie den Geist hin zu einer Transzendenz, die wir im Alltag mit seinen vielfältigen Ablenkungen oft nicht wahrnehmen.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Brahms-Requiem: "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras"
Brahms-Requiem: "Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen"
Brahms-Requiem: "Wie lieblich sind deine Wohnungen"
Brahms-Requiem: "Ihr habt nun Traurigkeit"
Brahms-Requiem: "Ich will euch trösten"
Brahms-Requiem: "Denn wir haben hier keine bleibende Statt"
Brahms-Requiem: "Herr du bist würdig"
Brahms-Requiem: "Selig sind die Toten"
Brahms-Requiem: "Selig sind, die da Leid tragen"
Verwendet aus:
Johannes Brahms. Ein Deutsches Requiem op.45, Christiane Karg (Sopran), Matthias Goerne (Tenor), Swedish Radio Symphony Orchestra, Swedish Radio Choir, Marc Korovitch, Daniel Harding, Harmonia Mundi LC 7045, EAN 3149020938225
Brahms. Ein Deutsches Requiem, Wiener Philharmoniker, Arnold Schönberg Chor, Genia Kühmeier (Sopran), Thomas Hampson (Bariton), Nikolaus Harnoncourt; Sony Music Entertainment, LC 00316, EAN 0886977 206627