Radio-Nachricht am 20. Juli 1944:
"Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffanschlag verübt. Der Führer selbst hat außer leichten Verbrennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten."
Als der Reichsrundfunk diese Nachricht am Abend des 20. Juli 1944 verbreitet, ist Heinrich Berger bereits tot: Der 39-jährige Familienvater, der als Stenograf in der Wolfsschanze arbeitet, ist das erste Opfer des Attentats. Eine Nachricht ist das für den Propagandafunk der Nazis nicht. Der, den es treffen sollte, Hitler der Tyrann, lebt. Der Vater von drei Kindern, Heinrich Berger, stirbt. Er erliegt den schweren Verletzungen, die die Explosion der Bombe bei der Lagebesprechung verursacht hatte. 80 Jahre ist es jetzt her, dass Dorothea Johst keinen Vater mehr hat. Sie lebt inzwischen in Erfurt und war damals noch keine drei Jahre alt. An ihren Vater hat sie kaum eigene Erinnerungen:
"Aber ich weiß, dass ... – aus den Berichten meiner Mutti –, dass er uns Kinder sehr geliebt hat. Und um mich gab es viele Sorgen. Als ich im Februar 42 zur Welt kam, die Winter waren damals viel strenger, war ich schwer krank und er hat viel mit meiner Mutti gebetet, dass ich überhaupt überlebe. Ich blieb gleich im Krankenhaus und wurde dann sechs Wochen künstlich ernährt und es gab große Schwierigkeiten. Und deswegen bin ich dann auch erst Ende Mai getauft worden."
Auch wenn sie sich kaum kennengelernt haben: In vielem hat ihr Vater sie bis heute geprägt. Doch wer war dieser Heinrich Berger? Sein Name wird fast nie genannt, wenn jetzt zum Jahrestag vom Attentat auf Hitler die Rede ist. In den Skizzen der Lagebesprechung aus der Wolfsschanze ist er nur die "Nr. 11". Viel bekannter ist der Name der Verschwörer, allen voran Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Er wurde noch in der Nacht in Berlin festgenommen und im Bendler-Block erschossen. Das Datum des 20. Juli verbindet beide. Heinrich Berger war kein Widerstandskämpfer. Er war aber auch keiner, der im Fokus des Attentats stand. Kein hoher Militär, ein Zivilbeamter – und keiner, der überzeugt war von der Nazi-Ideologie, sagt seine Tochter.
"Stenografie war eigentlich nur ein Hobby von ihm, um sich als Student und nebenher Geld zu verdienen. Er hatte ja Jura studiert und seine Abschlussarbeit im Studium war das Ehrenwort. Und was im Faschismus Ehrenwort bedeutet, das können wir wissen, dass das total konträr zu diesen Machenschaften der Faschisten war. Und für ihn kam das überhaupt nicht infrage. Es ging ja eher darum, dass man ihm den juristischen Titel aberkennen wollte. Er hatte ja promoviert. Deswegen war es für ihn nicht diskutabel, eine juristische Arbeitsstelle anzunehmen nach den neuen Gesetzen, die der Machtergreifung dann zugrunde gelegt wurden... Das ... das war ein Widerspruch in sich. Und deswegen hat er dann die Stenografie zum Gelderwerb für die Familie, um die Familie durchzubringen."
Heinrich Berger: einer, dem das Ehrenwort wichtig war. Einer, der sich nicht ganz von der Nazi-Ideologie vereinnahmen lassen wollte. Einer, der in der Familie und im Glauben Halt fand. Einer, der zu den schnellsten und besten Stenografen des Landes zählte. Vorher schon hatte er für private Unternehmen und im Preußischen Landtag und im Reichstag als Parlamentsstenograf gearbeitet. Dann wurde er zur Arbeit in der Machtzentrale der Nazis dienstverpflichtet. Eine Arbeit, die ihn am Ende das Leben gekostet hat, wie seine Tochter, Dorothea Johst, sagt:
"Das hat ihn sehr belastet, diese Stenografie und was er da hat schreiben müssen. Meine Mutti sagte oft, er war dann total geknickt und er durfte ja zu Hause nicht darüber sprechen. Das hat ihn belastet, aber ich war trotzdem stolz, dass er von der Sache her diese Fähigkeiten hatte und versucht hat, das Beste für unsere Familie zu machen. Und auch, dass er uns im Glauben gehalten hat bis zuletzt. Und das auch in seinem Sinne wir dann weitergeführt haben."
Heinrich Berger war Stenograf aus Leidenschaft. Er hat so schnell geschrieben, dass er zu den Besten des Landes zählte. So wurde er zur Arbeit als Zivilbeamter in der Machtzentrale der Nazis verpflichtet - in der Wolfsschanze, dem "Führerhauptquartier". Hier hatte er am 20. Juli 1944 Dienst. Im Halbstundentakt wechselte er sich mit Kollegen ab. Und so traf es ihn, als etwa um viertel vor Eins die Bombe explodierte. Er saß in nächster Nähe, wurde so schwer verletzt, dass er kurz darauf starb. Sein Können ist ihm zum Verhängnis geworden, sagt seine Tochter, Dorothea Johst:
"Ja, natürlich, sonst hätte er ja diesen Posten nicht gehabt. Und es war auch dummerweise Zufall. Es hätte auch die anderen, das waren ja vier. Und es hätte auch den Herrn Buchholz treffen können. Das war sein Partner im Wechsel. Und dadurch, dass er gerade Dienst hatte, die halbe Stunde, dadurch hat es ihn getroffen."
Dorothea Johst hadert aber nicht mit dem Schicksal ihres Vaters und ihrer Familie. Sie sieht es in einem größeren Zusammenhang:
"Und das war ja so viel... – wieviel? – 26 Millionen sind ums Leben gekommen. Und da ist er wirklich nur wie ein Staubkorn. Das willkürliche Umbringen in den KZs, wenn ich daran denke, das ist viel schlimmer. Und leider hat es den Falschen getroffen. Und Hitler ist leider nicht ums Leben gekommen. Aber das ist Schicksal. Und wenn der liebe Gott das so gewollt hat, dann hat er es so gewollt. Ja, gewollt hat er es auch nicht. Aber man kann ja nun nicht alles irgendwo bremsen. Dann hätte er die anderen auch bremsen müssen."
Ein Staubkorn der Geschichte. Ihr Vater, Heinrich Berger. Ein Vergessener des 20. Juli. In Erinnerung geblieben ist der Name Stauffenberg. Ein gefeierter Held und Märtyrer für die Freiheit vom Nazi-Terror. Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Selbst erst 37 Jahre alt. Er hat die Bombe gezündet, die eigentlich den Tyrannen töten sollte und Heinrich Berger traf. Dass Stauffenberg ohne es zu wollen für den Tod ihres Vaters verantwortlich ist, sieht Dorothea Johst ohne Groll.
"Naja, warum soll ich dem armen Herrn Stauffenberg, der ja auch elend hingerichtet wurde, da böse sein? Und seine Familie, … haben ja genauso gelitten, weil das missglückt ist, das Attentat. Ich versuche immer wieder, friedfertig mit anderen auszukommen, denn nur so gelingt auch das gemeinsame Leben."
Vor ein paar Jahren hat Dorothea Johst die Enkelin von Claus von Stauffenberg getroffen: Sophie von Bechtolsheim. Die Tochter des Getöteten und die Enkelin des Hingerichteten. Der 20. Juli ist der Schicksalstag für beide Familien geworden. Darüber hat die Historikerin Sophie von Bechtolsheim ein Buch geschrieben. "Stauffenberg. Folgen – Zwölf Begegnungen mit der Geschichte" heißt es. Das erste Kapitel darin ist das über Dorothea Johst und ihren Vater Heinrich Berger. Wenn Dorothea Johst heute an diese Begegnung mit Sophie von Bechtolsheim denkt, fällt ihr vor allem das Wort Versöhnung ein. Weniger, weil es zwischen den beiden Familien etwas auszusöhnen gäbe, sondern weil Versöhnung der Schlüssel zum Frieden überhaupt und auch die Lehre aus dem 20. Juli sei – bis heute in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Tage.
"Versöhnung ist für mich der einzige Weg und ohne Versöhnung kommt auch kein Friede. Die ganzen Bemühungen der Diplomaten, da nun endlich in die Kriegsfronten Ruhe reinzubringen, das geht nur mit Versöhnung. Man kann nur wieder von vorne anfangen."
Dorothea Johst kommt aus einer strenggläubigen Familie. Ihr Großvater mütterlicherseits gehörte der Gemeinschaft der Alt-Apostolischen Gemeinde an, einer Abspaltung zur Neu-Apostolischen Kirche. Sie selbst ist heute evangelisch und engagiert sich in ihrem Wohnort Erfurt in der dortigen Gemeinde.
"Und wir, die wir altapostolisch geblieben sind, da ist dann in den Gremien entschieden worden, schon zu meiner Zeit, als ich noch Schulkind war, uns der evangelischen Kirche anzuschließen. Und dann habe ich einmal Religionsunterricht in der apostolischen Gemeinde und gleichzeitig auch in der evangelischen Gemeinde, sodass ich sehr fromm."
Dieser Glaube hat die Familie getragen, ihr Trost gegeben, sagt Dorothea Johst. Auch in schweren Zeiten. Ihre Eltern haben sich in der Gemeinde kennengelernt. Das Gebet war ständiger Begleiter, tägliche Andachten gehörten dazu. Zu Allerheiligen 1944, ein knappes halbes Jahr nach dem Tod des Vaters, schrieb ihr Großvater einen Brief an die Familie und ihre Mutter Hertha Berger, um die Witwe aus dem Glauben heraus zu trösten:
"Liebe Hertha, auch du hast etwas von deinem Herzen abgeben müssen. Es ist ein Prüfstein, der nicht glatt ist, aber den man nicht wegrutschen kann, er ist höckrig, der Wunden reißt und in tiefer Kriegszeit so sehr viele Wunden gerissen hat. Wenn du nun die Last tragen musst, so sei Gott dankbar, dass er dich ausersehen hat, weil du die Kraft hast. Welch ein Vorrecht hat dir dein Vater im Himmel anvertraut. So wirst du die kurze Zeit, die wir auf der Erde noch zu leben haben, schon erfahren, wie gnädig und barmherzig Gott ist. Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben, denn ihre Werke folgen ihnen nach!"
(Brief von Matthes Smalla zu Allerheiligen 1944 an seine Tochter, Witwe von Heinrich Berger, und die Enkelkinder)
Fromme Worte, und der Versuch, einen Halt im Glauben zu finden. Wenn alles wegbricht und man den Boden unter den Füßen zu verlieren droht. Vielleicht war das ein Weg damals, in der Tyrannei und ihren Repressalien nicht zu verzweifeln und auf die Zukunft zu hoffen. Fromm-verklausuliert liest sich dann auch das, was der Großvater weiter in seinem Brief schreibt:
"Die Reiche dieser Welt sind im Vergehen! ... Der auferstandene Heilige wird dann dem einstigen Führer gegenübergestellt! Dann wird dem Führer gezeigt werden, dass nur allein vollkommener Friede wiederhergestellt werden kann durch die Macht Jesu Christi!"
Der Glaube als Halt. Die Hoffnung auf den Friedensfürsten Jesus Christus, der stärker ist als alle Despoten der Welt und auch stärker als der Tod. Das hat der Familie von Dorothea Johst Kraft gegeben. Geblieben sind ihr ein paar wenige Fotos mit ihrem Vater. Geblieben sind ihr die Erinnerungen durch das, was ihre Mutter über ihn erzählt hat. Und geblieben ist ihr noch etwas ganz wortwörtlich Handfestes von ihrem Vater:
"Und ich trage auch seinen Ring, denn jeder, meine Schwester, als meine Schwester geboren wurde, hat er meiner Mutti einen Ring geschenkt und ich im Februar ein Aquamarin, weil ich ja Wassermann bin im Februar. Und den trage ich jetzt schon viele Jahre."
Vor 80 Jahren starb Heinrich Berger. Er war am 20. Juli Stenograf in der Wolfsschanze, als die Bombe explodierte, die eigentlich Hitler töten sollte. Berger wurde auf einem kleinen Dorffriedhof in der Nähe von Cottbus bestattet, wo die Familie damals wohnte. Das Grab gibt es noch heute. Ein Heimatverein kümmert sich darum und hat inzwischen Hasenschwanzgras darauf gepflanzt. Dorothea Johst besucht ihren Vater dort regelmäßig und zeigt mir Fotos.
"Hier ist das Grab. Hier, da sieht man bloß noch das 'Berger'. Da hatte ich dann die Blumenschale dazu gekauft. Die Schrift hierhinter ist so schwer zu lesen. Das Problem ist eben, dass dieses Hasenschwanzgras so schrecklich hoch ist, dass man das nicht sehen kann. Die haben das bewusst gemacht, die haben Sorge, dass irgendwie sich Rechte das da irgendwie zum Anlass nehmen... Die suchen ja manchmal irgendwie solche dusseligen Gründe, um das dann für ihre Zwecke zu missbrauchen."
Dorothea Johst will nicht, dass das Grab zur Pilgerstätte wird für Alt-Nazis und Neu-Rechte. Ihre Mutter verweigerte schon damals ein Begräbnis mit militärischen Ehren. Heinrich Berger, ein ziviler Mitarbeiter in der Wolfsschanze, sollte nicht von den Nazis vereinnahmt werden.
"Es ist so viel Leid passiert und dass wieder so viele Gruppierungen, dass auch international wieder diesen Nationalismus nach vorne kehren, auch in anderen Ländern, und man weiß doch, was daraus wird!"
"Nie wieder" ist jetzt. Das gilt auch für Dorothea Johst. Die Geschichte ihres Vaters und der Familie ist für sie ein Auftrag, sich für den Frieden einzusetzen – auch aus ihrem Glauben heraus, wie sie betont. In Erfurt bietet sie in ihrer Gemeinde Kirchenführungen an. Das Leid, das durch Krieg entsteht, hat sie selbst erfahren. Und sie nutzt jede Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wozu Krieg führt, auch heute.
"Auf jeden Fall, wenn ich hier die Gäste betreue, erzähle ich nicht nur über die Kirche und über die Geschichte der Kirche, sondern daraus ergeben sich eben auch solche Fragen mit den vielen Flüchtlingen. Ich war ja dadurch auch Flüchtling und bin von Berlin nach Cottbus oder im Spreewald gewesen und wurde aufgenommen und kann mich da reinversetzen. Gerade wie schlimm das ist, wenn aus den Kriegsgebieten die Menschen hierher kommen. Sie können ja nicht woanders hin. Und das ist selbstverständlich Menschenpflicht, dass man sich um die kümmert. Und dass dann manche denken, sie werden benachteiligt, weil nun die Flüchtlinge auch Geld für den Unterhalt bekommen. Das finde ich so gehässig."
Gehässigkeit und Hass sind für Dorothea Johst keine Lösung. Versöhnung ist das Gebot. Das zeigt sich für sie auch in konkreter Hilfe für die, die unter den vielen Kriegen heute leiden. Und zwar ganz wortwörtlich vor der eigenen Haustür. In ihrem Mehrparteien-Haus in Erfurt leben auch viele Geflüchtete:
"Ich habe auch im Haus bei uns unsere ausländischen Bewohner eingeladen, dass wir nochmal Schulunterricht am Nachmittag gemacht haben. Da habe ich dann auch Unterricht mit Afrikanern gemacht und die Schulunterlagen, die sie von der Schule hatten, Da haben wir das geübt und erklärt. Und das ist für mich selbstverständlich. Ich mache das gerne. Und dass ich auch den Menschen helfe, auf dem Weg hier sich einbürgern zu können, auch meine Nachbarn, und beantworte ihnen gerne die Fragen oder biete mich an, ihnen zu helfen, was zu übersetzen oder dies oder jenes, weil mir das ein Bedürfnis ist."
Unser Interview liegt ein paar Wochen zurück. Auf dem Katholikentag im Mai in Erfurt habe ich Dorothea Johst noch einmal kurz getroffen. "Zukunft hat der Mensch des Friedens" war das Leitwort des Katholikentages. Das passt auch zu ihr und ihrem Leben. Am Abend hat Dorothea Johst mir dann noch eine kurze Mail geschrieben, die vieles auf den Punkt bringt, was sie auch jetzt zum 80. Todestag ihres Vaters bewegt: Heinrich Berger, ein Fast-Vergessener, ein "Staubkorn der Geschichte", wie sie über ihn sagt – und einer, dessen Leben und Sterben mit dem historischen Datum des 20. Juli 1944 für immer verbunden ist. Einer, der auch in schwerster Not Halt im Glauben gesucht hat und das an seine Familie weitergegeben hat. In ihrer Mail scheibt mir Dorothea Johst:
"Wir haben gerade das Lied von Dietrich Bonhoeffer gesungen. Das ist die Zusammenfassung des Gedenkens: 'Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag!'"
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.