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Aus Erbfeinden wurden Freunde. Der Élysée-Vertrag und sein christlicher Hintergrund

Feiertag, 22.01.2023

Gerd Felder, Aachen

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Es war ein historischer Moment, als der damalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle sich am 8. Juli 1962 in der Kathedrale von Reims zu einer Versöhnungsmesse trafen.

Die Staatsmänner von zwei Ländern, die sich jahrhundertelang bekämpft und in regelmäßigen Abständen blutige Kriege gegeneinander geführt hatten, kamen in der berühmten gotischen Kathedrale, der Krönungskirche der französischen Könige, die damals noch deutlich von Kriegsschäden gezeichnet war, zusammen, um die Erbfeindschaft der beiden Nachbarn zu beenden und ein Zeichen des Friedens zu setzen – und das, in heutigen Zeiten undenkbar, ausgerechnet im Rahmen einer heiligen Messe, eines katholischen Gottesdienstes. Dass die beiden Völker Freunde werden sollten, wurde ein halbes Jahr später mit dem Élysée-Vertrag besiegelt, am 22. Januar 1963 – heute vor 60 Jahren.

Adenauer und de Gaulle waren völlig gegensätzliche Charaktere, hatten aber eine große Gemeinsamkeit: Beide waren gläubige, praktizierende Katholiken. War es die Begeisterung für die Idee des „christlichen Abendlandes“, die Adenauer und de Gaulle verband? Darüber lässt sich trefflich diskutieren.

Das christliche Abendland wird politisches Leitmotiv

Tatsache ist: Als politisch-kulturelles Konzept hatte der Begriff nach 1945 bis in die späten 50er Jahre hinein eine hohe Präsenz in Fest- und Sonntagsreden – als Gegenentwurf zum rechten und linken Totalitarismus, als Mittel zur Unterstützung der Westorientierung und bei manchen Konservativen auch zur Abwehr einer „Westianisierung“ durch den Lebensstil der USA. Auch eignete sich das „Abendland“-Konzept nach Auffassung von Historikern, das seit 1871 schwelende Problem der Stellung Deutschlands in Europa als lösbar zu behandeln.

Für Adenauer wurde die Verbindung von Christentum und Humanität im Begriff „christliches Abendland“ nach 1945 Leitmotiv seiner Politik jenseits der nationalstaatlichen Orientierung; hier fand er Gleichgesinnte in dem damaligen italienischen Regierungschef Alcide de Gasperi und dem französischen Außenminister und späteren ersten Präsidenten des Europaparlaments, Robert Schuman, der mit ihm zu den Gründungsvätern der europäischen Integration zählten.

In seiner ersten Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 20. September 1949 erklärte Adenauer mit Nachdruck:

„… Im Namen der gesamten Bundesregierung kann ich Folgendes sagen: Unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur und von der Achtung vor dem Recht und vor der Würde des Menschen.

Andererseits vermied er es, zu viel von Christentum in politischen Dingen zu sprechen; dafür war sein Pragmatismus zu stark. De Gaulle war ebenfalls von frühester Kindheit an vom Katholizismus geprägt und las mit Begeisterung die Werke christlich geprägter Autoren wie Augustinus, Thomas von Kempen, Blaise Pascal oder Charles Peguy. Von de Gaulle ist der einprägsame, grundlegende Satz überliefert:

„Was wir schaffen wollen, ist ein christliches, im gemeinsamen Christ-Sein versöhntes Europa.

„Ein neues Blatt der Geschichte

Es war nicht nur der katholische Glaube, der Adenauer und de Gaulle verband. Beide hatten auch die Schrecken des Krieges miterlebt und waren gemeinsam der Überzeugung, dass eine Aussöhnung ihrer Länder die notwendige Bedingung für nachhaltigen Frieden in Europa darstellte. Der Élysée-Vertrag trug den offiziellen Titel „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit“.

Drei Kernbereiche prägten das Papier: Die Vertragspartner schrieben einen verbindlichen Konsultationsmechanismus fest, wonach sich Regierungsvertreter beider Staaten in regelmäßigen Abständen treffen sollten, und zwar auf höchster Ebene zwischen dem französischen Staatspräsidenten und dem deutschen Bundeskanzler wie auch auf der Ebene der Minister und leitender Ministerialbeamter. Zudem wurden Absprachen zur Außen-, Europa- und Verteidigungspolitik vereinbart und eine enge Zusammenarbeit in der Kultur- und Jugendpolitik. In einem Interview mit dem Französischen Rundfunk und Fernsehen hob Bundeskanzler Adenauer die Bedeutung des Vertrags hervor:

„Ein neues Blatt der Geschichte, meine Zuhörerinnen und Zuhörer, wird aufgeschlagen. Über vier Jahrhunderte hindurch haben zwischen dem französischen und dem deutschen Volke Streit und Spannungen bestanden, die oft zu blutigen Kriegen geführt haben. Diese Zeit ist nun vorbei, sie ist für immer vorbei. Das französische und das deutsche Volk stehen in Zukunft zusammen in gemeinsamem Vertrauen, in gemeinsamer Arbeit, für Frieden und Freiheit, für Frieden zwischen ihnen und für Frieden in Europa und in der Welt.

In einer Fernsehansprache einen Tag nach der Besiegelung des Élysée-Vertrages wandte Adenauer sich mit folgenden Worten direkt an das deutsche Volk und erläuterte ihm das Abkommen:

„Der Vertrag ist in seiner Art, glaube ich, einzigartig in der Geschichte, und zwar deswegen, weil er die Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen beiden Völkern auf unbegrenzte Zeit vorsieht. In allen Schichten und in allen Ständen soll diese Freundschaft gepflegt werden… Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Vertrag später einmal von der Geschichtsschreibung als eines der wichtigsten und wertvollsten Vertragswerke der Nachkriegszeit bezeichnet werden wird, und ich bin fest davon überzeugt, dass er sich zum Nutzen beider Völker auswirken wird und zum Nutzen Europas und zum Frieden der Welt.

Die Bedeutung des Vertrages für die deutsch-französische Aussöhnung ist, abgesehen von extrem rechten oder linken Parteien, bis heute in Politik und Geschichtsschreibung weitgehend unumstritten. Seine Unterzeichnung hat sich im Laufe der langen, wenn auch nicht immer harmonischen deutsch-französischen „Ehe“ als weitsichtige Entscheidung Adenauers und als Stützpfeiler der europäischen Einigung erwiesen.

Andererseits brachen schon kurz nach Abschluss des Abkommens erste Gegensätze auf, was nicht erstaunlich war, weil die Motive zum Vertragsschluss bei aller Einigkeit letztlich doch sehr unterschiedlich waren. Während Adenauer vor allem das Ziel verfolgte, die deutsch-französische Versöhnung und deren dauerhafte Verankerung voranzutreiben, ging es de Gaulle vor allem um die Emanzipation Europas von den USA.

Enttäuschte Hoffnung?

Die Parteien des Deutschen Bundestages fürchteten, dass de Gaulle Adenauer auf einen Weg mitgenommen hatte, der die bisherigen Säulen bundesdeutschen Selbstverständnisses, vor allem die transatlantische Bindung an die USA, in Frage stellte. Darum fügten sie – auch auf Drängen der US-Regierung hin – dem Vertrag eine Präambel hinzu, welche die engen politischen, wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Beziehungen mit den USA, Großbritannien und der NATO unterstrich und damit den eingeschlagenen Weg auf einschneidende Weise korrigierte. Aus Sicht de Gaulles war das dagegen ein kapitaler Fehlstart und der Élysée-Vertrag damit seines eigentlichen Sinnes entleert. Bei seinem ersten Staatsbesuch in Deutschland im Juli 1963 urteilte der Präsident:

„Verträge sind wie Rosen und junge Mädchen. Sie blühen nur einen Morgen.

Später wählte er gegenüber seinem Minister Alain Peyrefitte drastischere Worte:

„Die Deutschen benehmen sich wie Schweine. Sie unterwerfen sich völlig der Herrschaft der Angelsachsen. Sie verraten den Geist des französisch-deutschen Abkommens. Und sie betrügen Europa.

Ein paar Jahre später, im Jahr 1965, äußerte er sich gegenüber seinem Vertrauten Peyrefitte klar und deutlich:

„Die Deutschen waren meine größte Hoffnung, sie sind nun meine größte Enttäuschung.

Nichtsdestotrotz entwickelten sich die deutsch-französischen Beziehungen in den kommenden Jahrzehnten prächtig, wobei sie nicht eine blütenweiße Erfolgsgeschichte darstellten, sondern durch ein permanentes Auf und Ab charakterisiert waren. Dass Adenauer und de Gaulle die politischen Nachfolgegenerationen zum Dialog verpflichtet hatten, erwies sich als Glücksfall, denn in den kommenden Jahrzehnten arbeiteten Spitzentandems unterschiedlicher politischer Couleur sehr gut zusammen: Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt und der Liberale Valéry Giscard d´ Estaing, der Christdemokrat Helmut Kohl und der Sozialist Francois Mitterrand, der Sozialdemokrat Gerhard Schröder und der Gaullist Jacques Chirac.

Nicht zuletzt das Duo „Merkozy“, also die Zusammenarbeit von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, die aus derselben Parteienfamilie kamen. Für eine besondere Versöhnungssymbolik sorgten Helmut Kohl und Francois Mitterrand, als sie sich 1984 über den Gräbern von Verdun die Hände reichten und damit eine gemeinsame Erinnerung an den Ersten Weltkrieg schufen. Zum 40-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrages - am 22. Januar 2003 - fand erstmals ein Treffen des deutsch-französischen Ministerrates statt, und zum ersten Mal trafen sich auch der Deutsche Bundestag und die französische Nationalversammlung „Assemblée nationale“ in Versailles zu einer gemeinsamen Sitzung.

Zehn Jahre später, zum 50-jährigen Jubiläum, kamen die Abgeordneten beider Parlamente erneut zusammen und verabschiedeten im Berliner Reichstagsgebäude eine gemeinsame Erklärung. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der frühere Präsident Francois Hollande erinnerten wenige Monate danach mit einer Feier vor der Kathedrale von Reims sogar konkret an die Versöhnungsmesse 50 Jahre zuvor. Die religiöse Dimension der Zeremonie war allerdings auf ein Minimum reduziert und beschränkte sich darauf, dass beide das Kirchenschiff zum Klang der Orgeln durchschritten.

Auffrischung durch den „Vertrag von Aachen“

Auf den Tag genau 56 Jahre nach seiner Unterzeichnung, am 22. Januar 2019, erfuhr der Élysée-Vertrag dann schließlich sogar eine Auffrischung und Erneuerung, als der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im historischen Rathaus der Stadt Karls des Großen, welcher beide Völker verbindet, den „Vertrag von Aachen“ unterzeichneten, der ein Jahr später in Kraft trat. Der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärte zu den Intentionen:

„Mit dem neuen deutsch-französischen Vertrag richten wir den Blick in die Zukunft. Wir bündeln unsere Kräfte, damit unsere Länder bei Themen wie Digitalisierung, Bildung und Technologie für die Zukunft gerüstet sind. Und wir stellen uns gemeinsam auf, um für ein starkes, handlungsfähiges Europa, für eine friedliche Welt und eine regelbasierte Ordnung einzutreten.

Erklärtes Ziel des Vertrags von Aachen war es von Anfang an, die deutsch-französische Zusammenarbeit über eine große Bandbreite von Themen zu vertiefen, auf eine neue Stufe zu heben und fest im europäischen Rahmen zu verankern. Der Vertrag von Aachen war die Geburtsstunde von mehreren neuen Akteuren im deutsch-französischen Institutionengefüge:

Der deutsch-französische Bürgerfonds fördert seit 2020 Projekte, die Verbindungen zwischen Menschen über die Grenzen hinweg lebendiger werden lassen. Das deutsch-französische Zukunftswerk entwickelt Politikempfehlungen zu Zukunftsthemen. Um bestehende Hürden des Zusammenlebens in Grenzregionen zu beseitigen, leistet der Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit nun einen wichtigen Beitrag. Darüber hinaus ist im Vertrag von Aachen das Ziel verankert, Mobilitätsprogramme für Jugendliche weiter auszubauen.

Unter dem Strich betrachtet, bildet das gemeinsame Engagement für ein geeintes, leistungsfähiges und starkes Europa einen zentralen Eckpfeiler des Vertrags von Aachen. Und heute? Wie ist es aktuell um die deutsch-französischen Beziehungen bestellt? Schaut man in die letzten Wochen zurück, so gab es doch einige Verstimmungen und Irritationen; der deutsch-französische Motor stockte ganz erheblich. Gegensätzliche Ansichten im Hinblick auf die richtige Reaktion in Fragen der Energiepolitik und der wachsenden Inflation belasten aktuell das Verhältnis. Der Höhepunkt der Verstimmungen war erreicht, als Staatspräsident Macron Deutschland öffentlich Selbst-Isolation vorwarf.

Letztlich war es allerdings einem Beobachter vom Spielfeldrand vorbehalten, sogar noch einen draufzusetzen: Jacques Attali, Berater des früheren Staatspräsidenten Mitterrand und einer der angesehensten Wirtschaftsexperten Frankreichs, entwarf in einem Interview mit einem französischen Fernsehsender sogar das Szenario eines deutsch-französischen Krieges noch vor Ende dieses Jahrhunderts. Immerhin kam es Ende Oktober zu einem offiziellen Treffen von Macron und Scholz im Élysée-Palast, bei dem nach außen viel Herzlichkeit demonstriert wurde, am Ende jedoch auf die ursprünglich angekündigte und sonst übliche Pressekonferenz kurzfristig ebenso verzichtet wurde wie auf gemeinsame Statements zu Beginn.

Dass der konfessionslose Scholz und der bekennende Katholik Macron sich wie einst Adenauer und de Gaulle zu einem feierlichen Gottesdienst in der Kathedrale von Reims treffen würden, um die deutsch-französische Freundschaft zu feiern und zu besiegeln, ist jedenfalls aktuell undenkbar. Und auch der Begriff „christliches Abendland“ ist heutzutage für viele durch rechtsextreme Kräfte und Pegida-Demonstrationen diskreditiert, weil er inzwischen hierzulande eher für Aus- und Abgrenzung steht.

Die deutsch-französische Freundschaft ist kein Selbstläufer

Damals, vor 60 Jahren, aber waren es noch christliche Überzeugungen und Werte, die mit diesem Begriff verbunden waren und die das Handeln von Staatsmännern unterschiedlichen Charakters bestimmten. Sie trugen letztlich entscheidend dazu bei, dass es zu einer nie für möglich gehaltenen Versöhnung zwischen zwei lange verfeindeten Nationen kam – einer Versöhnung, die auch noch länger das Verhältnis von Deutschland und Frankreich prägen, die jüngsten Konflikte überdauern und Attalis düstere Vorhersage Lügen strafen wird.

Die Verstimmungen, Irritationen und Schwierigkeiten der vergangenen Monate haben aber überdeutlich gezeigt: Der Élysée-Vertrag ist kein Selbstläufer, sondern er muss immer wieder neu mit Leben gefüllt und in die jeweilige Wirklichkeit übertragen werden. Dass die Welt sich seit dem Angriff Putins auf die Ukraine komplett verändert hat, musste zwangsläufig auch erhebliche Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der beiden Länder haben und hat auch in ihrem Binnenverhältnis zu erheblichen Verschiebungen geführt.

Freundschaften müssen, nicht nur im privaten Bereich, sondern auch zwischen Staaten gepflegt und immer wieder neu belebt werden, Sonntagsreden müssen konkretes, praktisches Handeln unter dem Vorzeichen der Partnerschaften nach sich ziehen. Darüber hinaus stellt sich eine ganz andere Frage: Kann der Élysée-Vertrag, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle heute vor 60 Jahren schlossen, womöglich auch ein Vorbild für andere Freundschafts- und Versöhnungsverträge werden? Die Geschichte und die Ereignisse der letzten Jahre haben uns gelehrt, dass wir nichts für unmöglich halten sollen. Womöglich kann der Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich eines fernen Tages noch zur Leitschnur für einen Vertrag zwischen zwei ganz anderen „Erbfeinden“ werden.

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Maitrise de Notre Dame de Paris – TeDeum (Gregorianisch)

Michael Haydn – Alleluia! Surrexit christus

J.S. Bach – Singet dem Herrn ein neues Lied

Mendelssohn – Violin Concerto E-minor. Allegro non troppo

David Gomez – Goodbye

J.S. Bach – Toccata & Fuge in D Minor „Dorian“ 1. Prelude