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"Hello Darkness my old friend." Spiritualität in den Songs von Paul Simon

Feiertag, 23.04.2023

von Johannes Lorenz, Frankfurt am Main

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Der US-amerikanische Singer-Songwriter Paul Simon zählt zu den bedeutendsten Musikern des 20. Jahrhunderts. Heute ist er 81 Jahre alt. Gemeinsam mit Art Garfunkel, seinem Freund aus Schülertagen, schaffte er mit dem Folk-Duo "Simon and Garfunkel" Mitte der 1960er Jahre den Durchbruch. Die Songs stammten dabei alle aus der Feder von Paul Simon. Seine Songs erzählen von Einsamkeit, Vergänglichkeit, Stolz – von verschütteten Erinnerungen, von Botschaften an U-Bahn-Wänden, Reisenden an Flughäfen oder von Regentropfen, die ihn erinnern an eine weit entfernte Liebe.

In einigen seiner Songs klingen auch religiöse oder spirituelle Motive an. Manchmal sind sie nur angedeutet. Doch bis in seine neuesten Alben hinein tauchen spirituell aufgeladene Motive immer wieder auf. Dabei ist es keine spezielle Religion, zu der Simon eine Nähe erkennbar werden lässt. So spielt seine jüdische Herkunft für ihn kaum eine Rolle – im Unterschied etwa zu Leonard Cohen.  In einem Interview im Jahr 2011 sagte Paul Simon:

"Lieder beginnen als Geschichten, und wohin sie gehen, bildet ein Pfad, dem ich dann folge. Manchmal sind spirituelle oder religiöse Bilder Teil der Geschichte. Es ist sehr selten der springende Punkt des Liedes. Aber es ist eine Gegenwart, die sich hält."

Am 13. Oktober 1941 wird Paul Frederic Simon als Sohn einer jüdischen Musikerfamilie in New York geboren. Die wachsende Judenfeindschaft zwang seine Eltern in den 1930er Jahren von Ungarn nach Amerika zu fliehen. Simon kam früh mit Musik in Berührung – besonders die musikalischen Aktivitäten seines Vaters prägten ihn sehr. Der war in Ungarn erster Geiger im Budapester Radioorchester und trat in Amerika dann als Kontrabassist auf.

Der Durchbruch: "Sound of Silence"

Simon wuchs im New Yorker Stadtteil Queens auf. Gemeinsam mit seinem Nachbarsjungen und Freund Art Garfunkel trat er früh in der Schule auf die Bühne. Beide verband die Liebe zum Gesang. 1964 erschien ihr erstes Folkalbum "Wednesday Morning 3 AM". Auf der Platte befand sich auch "The Sound of Silence". Das Album floppte. Simon ging nach London, um die dortige Folk-Szene kennenzulernen. Erst als der Musikproduzent Tom Wilson – ohne Rücksprache mit Paul Simon – "The Sound of Silence" mit Schlagzeug und E-Gitarren aufmotzte, bedeutete das für "Simon and Garfunkel" den Durchbruch.

"Hallo Dunkelheit mein alter Freund."

In "Sound of Silence" erscheint die Dunkelheit als ein alter Freund, mit dem sich Simon freundschaftlich unterhält.

"Ich bin gekommen, um noch einmal mit Dir zu sprechen, weil eine Vision sanft schleichend ihre Saat zurückließ, während ich schlief, und die Vision, die in mein Gehirn gepflanzt wurde, fortwährend besteht – Im Klang der Stille."

Im weiteren Liedtext geht es um den Wert der Stille, die zerstört wird durch herumplappernde Menschen, die viel reden, ohne etwas zu sagen. Dabei erscheint als Gegensatz zum Freund "Dunkelheit" der menschengemachte Neon-Gott – grell und blendend. Was will dieser Song sagen?

Dass Dunkelheit und Stille einen Wert für den Menschen darstellen, ist Überzeugung der meisten religiösen Traditionen. Die Dunkelheit und die Stille lassen den Menschen auf sich selbst zurückfallen. Die großen Sinnfragen kommen vor allem dann an die Oberfläche, wenn alles wegfällt, was mich von mir selbst ablenken kann.

Gott erscheint in der Stille

Im Alten Testament der Bibel gibt es die Geschichte von Elija am Gottesberg, an die man sich bei "Sound of Silence" erinnern mag. Elija wartet dort auf die Begegnung mit Gott. Die Pointe am Schluss ist, dass Elija Gott nicht im Getöse des Gewitters begegnet, sondern in einem zärtlichen Schweigen, das kaum hörbar ist. Elija muss dafür still sein und hinhören.

"Sound of Silence" – "der Klang der Stille" schafft einen Sinn dafür, dass Dunkelheit und Stille wichtig für den Menschen sind. Beides kann uns leicht abhandenkommen – besonders heute. Der Dauerlärm der ständigen Erreichbarkeit oder die permanente Überbelichtung können uns von uns selbst ablenken. Simons Dialog mit der Dunkelheit ist ein Bild dafür, dass Menschen auch die Stille und die Dunkelheit brauchen, um sich im Lärm des Alltags und im gleißenden Neonlicht ihres Lebens nicht selbst zu verlieren.

"Bleecker Street": Bilder der Bibel

Auf dem gleichen Album von "Sound of Silence" befindet sich auch der Song "Bleecker Street". Die Bleecker Straße führt durch Greenwitch Village, einem Stadtteil von New York. Anfang der 1960er Jahre war sie das Eldorado der Folk-Szene. Die Melodie wirkt beschwingt und fröhlich, der dazugehörende Songtext dagegen ist rätselhaft.

"Nebel kommt vom Ufer des East River herangerollt wie ein Schleier bedeckt er die Bleecker Street Füllt die Gassen, in denen Männer schlafen Versteckt den Hirten vor den Schafen [...] Der Dichter las seinen krummen Reim Heilig, heilig ist sein Sakrament [...] Ich hörte eine Kirchturmglocke leise schlagen In einer Melodie bekräftigend Es ist ein weiter Weg nach Kanaan In der Bleecker Street Heilig ist das Sakrament – Der Hirte und seine Schafe – Bis nach Kanaan, ins gelobte Land, ist es ein weiter Weg."

Paul Simon nutzt hier die Bildwelten der Bibel. Doch was will dieser Song sagen? Ist Gott verborgen? Es hängt etwas Schwermütiges in der Luft. Kanaan steht für den Sehnsuchtsort, doch der scheint unerreichbar. Dem Song eine bestimmte religiöse Botschaft zu entnehmen, wäre vermutlich zu weit gegriffen. Aber Simon spielt hier mit der Magie der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Die biblischen Bilder erzählen von dieser Sehnsucht.

Paul Simon könnte sie auch auf seine persönliche Situation dieser Zeit bezogen haben: Sein Start als Sänger glich einem beschwerlichen Weg. Simon und Garfunkel verbrachten am Anfang ihrer Karriere viel Zeit und Nerven damit, sich bei diversen Plattenfirmen vorzustellen und ihre Songs bekannt zu machen. Dass gerade die mit der Musikszene in Verbindung stehende Bleecker Street genannt wird, könnte dafür ein Beleg sein. Dennoch: Auffällig ist hier die Verwendung der Bilder aus der Bibel und die Bildsprache der Kirche, die ihm hier die Worte geben.

Spirituelle oder religiöse Bilder spielen in der musikalischen Popkultur seit jeher eine wichtige Rolle: zum Beispiel Bob Dylans "Knocking on Heavens door", "Oh my God" von The Police, Madonnas "Like a Prayer" oder "The Cross" von Prince.

Solche religiösen Bildwelten haben ihre Wurzeln in den afroamerikanischen Spirituals und Lobpreisliedern. Die afroamerikanischen Sklaven verbanden darin ihre eigene Herkunftsmusik mit ursprünglich europäischem Liedgut. Viele identifizierten ihre Situation der Versklavung mit biblischen Geschichten, die von Unterdrückung und Freiheit handeln. Insbesondere die Befreiung der Israeliten aus der Knechtschaft der Ägypter wurde zum Hoffnungsmotiv der afroamerikanischen Sklaven.

Blues und Gospel: Klänge des gelebten Glaubens

Gemeinsam mit dem Blues entwickelte sich aus den frühen Spirituals und Lobpreisliedern der Gospel. Für Paul Simon wurde der Gospel zu einer besonders wichtigen Inspirationsquelle seiner Musik. So zum Beispiel in seinem Welthit "Bridge over troubled water", den er zusammen mit Art Garfunkel 1970 veröffentlichte. Elemente des Gospels werden hier aufgegriffen. Die schwarze Sängergruppe "The Swan Silvertones" um den Gospelsänger Claude Jeter inspirierten Paul Simon dabei entscheidend. Deren Song "Mary don´t you weep" - "Maria, weine nicht" enthält diese Liedzeile:

"I'll be your bridge over deep water if you trust in my name Mary – Ich werde deine Brücke über tiefes Wasser sein, wenn du auf meinen Namen vertraust, Maria."

Im Song von Claude Jeter ist der Sinn eindeutig: Gott spricht hier – er ist die Brücke über die tiefen Wasser. Simons "Bridge over troubled water" greift dieses Motiv der rettenden Brücke auf. Es steckt auch darüber hinaus voller Bezüge, die sich religiös lesen lassen.

"Wenn du ermüdet bist und dich klein fühlst Wenn deine Augen voller Tränen sind Werde ich dir sie alle trocknen Ich bin an deiner Seite Wenn die Zeiten hart werden."

Diese Zeilen erinnern an die Psalmen im Alten Testament und an das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament. Dort ist das Motiv zentral, dass Gott am Ende alle Tränen trocknen wird; Geschrei, Leid, Schmerz – ja selbst der Tod, werden dann nicht mehr sein.

In "Bridge over troubled Water" ist es das lyrische Ich, das sich wie eine Brücke über das unruhige Wasser legt und Trost spendet für die Klagenden. Ob jedoch auch für Paul Simon Gott hier die Brücke darstellt, bleibt unklar.

"Blessed": Kluft zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Im Song "Blessed" aus dem Jahr 1965 greift Simon auf zentrale Aussagen von Christus aus dem Neuen Testament der Bibel zurück:

"Gesegnet sind die Sanftmütigen, denn sie werden erben Gesegnet ist das Lamm, dessen Blut fließt Gesegnet sind die, auf denen gesessen, auf die gespuckt und gepfiffen wird O Herr, warum hast du mich verlassen? Ich habe keinen Ort, wo ich mein Haupt hinlegen kann."

In "Blessed" werden zwei Äußerungen Jesu miteinander vermischt. Die erste stammt aus den Seligpreisungen in der Bergpredigt. Es sind die berühmten Sätze Jesu, die er jeweils mit einem "Selig sind" einleitet. Die zweite Äußerung "O Herr, warum hast du mich verlassen?", ist der Schrei Jesu am Kreuz. Mit der Vermischung beider Äußerungen bringt der Song die Kluft zwischen dem Glauben an einen gütigen Gott und der realen Situation vieler Unglücklicher zum Ausdruck. Simon nimmt besonders die Verratenen, die Drogensüchtigen und Betrüger in den Blick.

Wichtig bei diesem Song ist die Art, wie er gesungen wird: Das Ganze wirkt sarkastisch oder gar hämisch. Die Musik ist verzerrt, verbogen, so als würde man die Schreie der Unglücklichen hören. Das "Ich" des Songs ist traurig und desillusioniert, es fühlt sich im Stich gelassen von den vermeintlich leeren Versprechungen der Bibel. Macht Simon sich hier über Gott lustig? Nein. Aber der Song rückt das Leiden der Unglücklichen in den Mittelpunkt und widerspricht damit einem Glauben, der die Härten des Lebens mit frommen Formeln beschwichtigen will.

Kurz nach der Veröffentlichung des Albums "Bridge over troubled water" im Jahr 1970 gab das Duo "Simon and Garfunkel" die Trennung bekannt. Zwar gab es auch in der Folge vereinzelte gemeinsame Auftritte. Doch sowohl Paul Simon als auch Art Garfunkel begannen eine Solokarriere.

"Nobody": Wer bin ich und warum?

In seinen Jahren als Solokünstler verändert sich Paul Simon musikalisch. Er löst sich vom klassischen Folk und sucht in allen Teilen der Welt nach Inspirationen. Seine Musik spiegelt die vielfältigen Begegnungen mit Musikern auf der ganzen Welt wider, mit denen er musikalische Traditionen neu zusammenmischt. Er lässt sich nun nicht mehr einem bestimmten Genre zuordnen. Doch die spirituellen Motive bleiben auch in seinen späteren Songs enthalten. Zum Beispiel in dem Song "Nobody" aus dem Jahr 1980.

"Wer fühlt mein Fleisch, wenn ich weg bin? Wer war Zeuge des Traums? Wer ist mein Grund, anzufangen? Niemand / Niemand außer dir, Mädchen."

Das "Ich" im Song stellt absolute Fragen nach dem Sinn seiner Existenz. Doch niemand ist in der Lage seine Fragen zu beantworten. Außer einem Mädchen. Der Song entpuppt sich als Liebeslied.

"Nobody" ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie Anspielungen, die auf etwas Absolutes oder Göttliches zielen, umgedeutet werden. Das angesprochene Du ist hier nicht Gott, auch wenn man es anfangs vermuten könnte. Es ist die geliebte Person, dem das Ich die großen existentiellen Fragen stellt und das eigene Leben anvertraut. Viele Künstler der Popmusik arbeiten mit dieser Durchlässigkeit von Liebeslyrik und religiöser Lyrik. Die Liebe zum Mitmenschen bekommt dadurch nicht selten eine religiöse Dimension. Die traditionell religiöse Sprache kann dabei helfen, die Besonderheit der zwischenmenschlichen Liebe auszudrücken. Es zeigt: Religiöse Erfahrungen und Erfahrungen in der Liebe gleichen sich oft.

Dass Ass im Ärmel: Jesus oder die Musik?

Auf dem gleichen Album findet sich der Song "Ace in the Hole", "Ass im Ärmel". Darin taucht Jesus auf, der als Ass im Ärmel bezeichnet wird:

"Manche Leute sagen, Jesus sei das Ass im Ärmel Aber ich habe den Mann nie getroffen, also weiß ich es nicht wirklich Vielleicht an Weihnachten, wenn ich krank und allein bin."

Auch hier ist der ironische Unterton deutlich zu hören. Das lyrische Ich spielt mit der Idee, dass Jesus die letzte Instanz ist, dass Jesus wie ein Ass aus dem Ärmel herausgezogen werden könnte, wenn nichts mehr geht. Die Ironie wird verstärkt, wenn es am Ende des Liedes heißt:

"Manche Leute sagen, Musik sei ihr Ass im Ärmel Ein ganz normaler Rhythmus und Blues Dein einfacher Rock 'n' Roll Du kannst dich an die Spitze des Beats setzen."

Die Botschaft des Songs ist klar: Das "Ass im Ärmel" ist nicht Jesus, sondern die Musik. Auch das gibt es in den Liedern von Paul Simon: Er distanziert sich darin von allzu klaren Glaubensaussagen, aber es fällt auch auf: Er lässt dennoch die Sprache gerade des christlichen Glaubens immer wieder einfließen, sie lässt ihn nicht los, er spielt damit, nutzt sie, um Stimmungen zu beschreiben, aber manchmal auch, um sich an ihnen abzuarbeiten oder sich von der Aussage dahinter zu distanzieren.

"Questions for the Angels" – "Fragen für die Engel", so heißt ein besonderer Song, der auf Simons 2011 erschienenem Album "So beautiful or so what" zu hören ist. Er handelt von den letzten Fragen:

Kann man sein Leben komplett neu beginnen, so wie man ein Gleis wechseln kann? Von einem Pilger ist die Rede. Er ist ein Sinnbild für den Menschen und sein Unterwegssein. Wer bin ich in dieser einsamen Welt?, fragt er sich. Ein Obdachloser? Was wird sein Schicksal sein? Und: Wen kümmert es am Ende, wenn die Menschheit komplett verschwunden sein wird? Letztlich sind all die Fragen, Fragen für die Engel. Aber wer glaubt noch an Engel?, so fragt der Song.

"Fragen an die Engel Wer glaubt an Engel Ich tu‘s, wie Narren und Pilger überall auf der Welt."

Es ist eine unerwartete Wendung gegen Ende des Liedes. Auch das Ich des Songs glaubt an Engel. Vielleicht ein Ausdruck dafür, dass es auch für Paul Simon im Letzten einen Halt gibt, jenseits von allem Sichtbaren und Messbaren.

Wie Simon sich diesen genau vorstellt? Vielleicht weiß er es selbst nicht genau. Seine Liedtexte lassen das nicht selten erahnen. Gerade deshalb berühren viele der Songs von Paul Simon so sehr. Sie sind wunderschön, weil er in den Texten darin auf der Suche ist. Simon gibt uns keine einfachen Antworten, weil er sie selbst nicht kennt. Er scheut dabei nicht davor zurück, religiöse und spirituelle Bilder aufzugreifen. Aber: Diese bleiben unklar, schillernd und entfalten gerade dadurch ihre Stärke.

Nur als tastende Suchbewegung bleibt der Weg von Religion und Spiritualität in einer Welt voller Spannungen zukunftsfähig.


Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.

Musik:

Sound of Silence

Rewrite

Bleecker Street

Bridge over troubled water Blessed

Nobody

Ace in the Hole

Questions for the Angels

Über den Autor Johannes Lorenz

Johannes Lorenz, Dr. theol., geb. 1986 in Freiburg i.Br., Studium der Musikwissenschaften, Geschichte und Katholischen Theologie. Seit 2014 arbeitet er als Studienleiter für Weltanschauungsfragen und Lebenskunst an der Katholischen Akademie Rabanus Maurus im Haus am Dom in Frankfurt am Main.