"Also schon der junge Maarten ’t Hart entdeckt eigentlich die Musik als Freiraum, als eine Welt, die ja die Wirklichkeit übersteigt …" (Gregor Seferens)
"Ich möchte sagen, dass zur Religiosität immer auch der Zweifel dazugehört, und dass sich das ja auch im Werk von Maarten ’t Hart so zeigt. Also, ich finde, seine Bewegung ist eher immer ein ständiges Ringen mit Religion, religiösen Inhalten, die ihn nicht loslassen … (Christina Bickel)
"Und dann hat er wirklich ein calvinistisches Arbeitsethos an den Tag gelegt und so ungefähr pro ein bis zwei Jahre einen Roman veröffentlicht …" (Klaas Huizing)
Annährungen an Maarten ’t Hart. Der wird morgen achtzig Jahre alt. Der niederländische Schriftsteller wurde am 25. November 1944 in Maassluis geboren. Das ist ein kleines Städtchen in der Nähe von Rotterdam. Hier spielen etliche der Romane von ‘t Hart, die nicht selten autobiografisch geprägt sind. Hier verbringt der Autor Kindheit und Jugend – in einem orthodox calvinistischen Milieu.
"Der niederländische Calvinismus, so wie ich ihn erlebt habe, war keine Spaßveranstaltung."
Das sagt der Theologieprofessor Klaas Huizing. Die lebensfeindliche Auslegung der Sonntagsheiligung im streng calvinistischen Milieu skizziert er so:
"Zweimal Gottesdienst, 10 Uhr und 14 Uhr. Damit war im Grunde genommen in den Wintermonaten der Sonntag auch eh schon verplant, und in den Sommermonaten war‘s besonders ärgerlich, weil man dann auch nicht schwimmen gehen durfte."
Der Calvinismus, diese in den Niederlanden oft fundamentalistisch anmutende Konfession des Christentums, geht auf den Genfer Reformator Calvin zurück. Der ließ Musik nur im Gottesdienst zu. Noch keine achtzehn Jahre alt verlässt Maarten ‘t Hart sein Elternhaus. Der Erstgeborene geht 1962 ins Studium – gegen den Willen seiner Eltern. Die Pfarrerin Christina Bickel erklärt:
"Er hat Biologie in Leiden studiert und ist promovierter Verhaltensbiologe. Und das war schon sehr prägend dahingehend, dass er eine extrem gute Beobachtungsgabe hat für Naturerscheinungen, für Tiere."
Präzision durchzieht und prägt dann auch die Romane des späteren Schriftstellers, seine nicht selten humorvollen Schilderungen von Menschen und Situationen. Deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ist der Niederländer vor allem bekannt dank seines Romans "Das Wüten der ganzen Welt". Der wurde in Holland zu einem überragenden Erfolg und erschien 1997 auf Deutsch. Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich war begeistert:
"Ein grandioser Roman. Es ist eine Geschichte über Musik und Schönheit, Enge und Verbohrtheit, über das Erwachsenwerden und die Nachkriegszeit, verzweifelte Lebenslügen und feigen Verrat – und wenn man ganz am Schluss den Prolog noch einmal liest, dann wächst der Roman zu einem wunderbaren Kunstwerk zusammen. Dass dieses Kunstwerk sogar auch komisch ist, ist ein besonderer Verdienst des Autos, der in den Niederlanden zu den Großen zählt."
"Also, im Roman „Das Wüten der ganzen Welt“ geht es um den jungen Protagonisten Alexander Goudveyl. Dieser ist als Jude von einer calvinistischen Familie adoptiert worden, weiß aber nichts von seiner wahren Herkunft. Und es geht letztendlich dann darum, wie im zweiten Weltkrieg jüdische Menschen gerettet wurden von Niederländern, Niederländerinnen (…) oder auch verraten wurden." (Christina Bickel)
In erster Linie ist "Das Wüten der ganzen Welt" ein Kriminalroman. Mit ihm gewinnt Maarten ’t Hart 1994 in den Niederlanden den Preis für den besten Krimi des Jahres. Darin geht es nicht nur um die Frage, wer aus der heimischen Bevölkerung wen im Zweiten Weltkrieg an die deutschen Besatzer verraten hat, sondern auch um das Lebenstrauma des Ich-Erzählers und Protagonisten namens Alexander: Wer war der Mann, der vor den Augen des 12-Jährigen einen Polizisten erschoss, der nie gefasst wurde und dessen Rache der einzige Zeuge sein Leben lang fürchtet, fürchten muss?
In zweiter Linie ist "Das Wüten der ganzen Welt" ein Entwicklungsroman. Denn ’t Hart erzählt "anschaulich und mit viel Liebe zum Detail" vom Erwachsenwerden des jungen Alexander in der Provinz. Dessen Eltern sind orthodoxe Calvinisten. Daher spielt in Alexanders jungen Jahren – ähnlich wie beim Autor selbst – die Bibel eine wichtige Rolle. Pfarrerin Christina Bickel schreibt in ihrer Dissertation mit dem Titel "Religion im Werk von Maarten ‘t Haart":
"Alexander wächst im calvinistischen Milieu des Hafenstädtchens Hoek in der Nähe von Rotterdam auf. Der Schulunterricht ist durch wörtliche Bibellektüre geprägt. Dadurch, dass er (…) die Bibelstelle kennenlernt, (…) in der es heißt, dass Gott Mose zu töten suchte, entwickelt er in Verbindung mit dem Mord (…) am Polizisten die Wahnvorstellungen, dass Gott es eigentlich auf ihn abgesehen habe. (…) Die Angst des Protagonisten vor dem wütenden Gott könnte von der calvinistischen Erziehung [herrühren] und von der calvinistischen Lehre, dass die einen erwählt und die anderen verworfen werden."
Der Beginn des zweiten Satzes aus dem Violinkonzert in E-Dur von Johann Sebastian Bach. Als Alexander diese Musik hört, erlebt er einen langanhaltenden, kostbaren Augenblick. Er hört etwas, das ihn "wirklich bis ins Innerste" anrührt – und ihn im Grunde nicht mehr loslässt. Im Roman liest man:
"So werde ich nie vergessen, dass ich zufällig eines Mittags um ein Uhr im Radio zum erstenmal das Violinkonzert in E-Dur von Bach hörte. Eigentlich merkwürdig, denn bei uns zu Hause wurde das Radio immer sofort abgestellt, wenn klassische Musik gespielt wurde."
Nach dem Tod seiner Eltern studiert Alexander schließlich Komposition und widmet sich ganz der Musik. Er befreit sich aus der Enge seines Elternhauses und von seiner pathologischen Gottesfurcht. Das Beispiel deutet an: In gewisser Weise ist "Das Wüten der ganzen Welt" auch ein Musik-Roman, bettet ‘t Hart doch viele Musikstücke in die Romanhandlung ein. Am Ende vieler Druckausgaben findet man sogar eine dreiseitige Liste mit der Überschrift "Kleines Brevier zum Mit- und Nachhören für die Leserinnen und Leser".
Mehr noch als Hinweise und Angaben in puncto Musik findet man Bibelverse und biblische Motive in ‘t Harts Erfolgsroman. Daher kann "Das Wüten der ganzen Welt", so Christina Bickel, – Zitat – "neben den Lesarten als Detektiverzählung und Entwicklungsroman (…) auch als Adaption der biblischen Geschichte von Mose aus dem Buch Exodus gelesen werden." – Bewusst legt der Autor entsprechende Spuren aus. Nur ein Beispiel. Maarten ’t Hart stellt seinem Roman folgenden Bibelvers voran:
"Unterwegs aber, da wo er übernachtete, trat ihm der Herr entgegen und suchte ihn zu töten". (Exodus 4,24)
Gemeint ist Mose, der das Volk der Israeliten aus Ägypten heraus und durch die Wüste geführt hat. Der große Prophet Israels wird als Säugling aus dem Wasser des Nils gerettet, die Hauptfigur des Romans aus dem Wasser des heimischen Schwimmbeckens. Später erinnert sich Alexander:
"Vielleicht wäre die Bibelstelle [vom Tötungsversuch Gottes] weniger gut haften geblieben oder hätte mich weniger beeindruckt, wäre ich nicht mittags im Schwimmbad beinahe ertrunken. (…) Als ich wieder zu mir kam, (…) bewegte Bademeister Jacobs (…) meine Arme abwechselnd auf und ab. Ich spuckte Wasser, schaute in den blauen Himmel und wusste, dass Gott von dort, aus unendlich weiter Ferne, überheblich aus dem Himmel auf mich niederblickte."
Das liest man im ersten Kapitel des Romans. Es trägt die bezeichnende Überschrift "Moses". Man ahnt vielleicht schon: Hier schreibt ein belesener Autor, ein Bibelkenner, allerdings mit skeptischem Abstand ebenso wie mit einer Prise Ironie. Der Romantitel "Das Wüten der ganzen Welt" geht zurück auf eine kurze Bemerkung des Ich-Erzählers Alexander:
"Wir tranken Tee. (…) Wir lauschten der Kantate 80, der Kantate, in der Bach das Wüten der ganzen Welt heraufbeschwört und es zugleich wieder besänftigt."
Inhaltlich spielt der Titel "Das Wüten der ganzen Welt" vor allem an auf die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs, auf Bombardierung und Besatzung, auf Deportation und Vernichtung. Auf diese leidvollen Erfahrungen und deren Folgen reagieren die Romanfiguren unterschiedlich. Die fromme Witwe des erschossenen Polizisten etwa trotzt dem Wüten und singt den Choral: "Auf Gott vertraue ich". Alexander hingegen erhebt sich mithilfe der Musik über die grauenvolle Wirklichkeit und entflieht so dem Wüten der ganzen Welt.
In seinem Erfolgsroman "Das Wüten der ganzen Welt" zeigt sich Maarten ‘t Haart wie in vielen weiteren seiner Publikationen als Prophet der klassischen Musik und als bibelfester Autor. Er bereitet seinen Leserinnen und Lesern ein literarisch gelungenes Menü zu, eine Mischung aus Kriminal- und Entwicklungsroman, pikant gewürzt mit Humor und Ironie, angereichert mit Einblicken ins calvinistische Milieu einer niederländischen Kleinstadt, vor allem aber mit zahlreichen musikalischen sowie biblischen Spuren.
Viele der genannten Zutaten lassen sich auch in den anderen Romanen des Autors ausfindig machen. Dabei zeigt sich – mit Blick auf die Spuren des Religiösen, auf den kritisch-kreativen Umgang des Autors mit der Bibel – ein Phänomen, das als Transformation bezeichnet wird. Der Autor nimmt zum Beispiel ein Motiv oder Wort wie "Gott" aus seinem üblichen, ursprünglichen Zusammenhang heraus und bettet es in einen neuen Kontext ein. Ein schönes, auffälliges Beispiel ist der deutsche Romantitel "Gott fährt Fahrrad".
"Das Buch hat einen genialen Titel: Gott fährt Fahrrad. Ja, das kann man sich wirklich sofort merken, nistet sofort in den Synapsen und will da auch gar nicht wieder raus."
Klaas Huizing ist begeistert. Denn der poetische Titel verstört, lässt schmunzeln – und regt zum Nachdenken an. Ein ungewohntes Gottesbild. ‘t Harts Erfahrungen mit seinem Vater verdichten sich darin ebenso wie Gedanken des Ich-Erzählers angesichts eines geheimnisvollen Fremden auf dem Fahrrad. War das Gott? Laut Bibel kann der alles. Warum nicht auch Fahrradfahren?
Maarten ‘t Hart bezeichnet sich selbst als Atheist. Schon früh zerbricht sein kindlicher Glaube, stößt er doch als eifriger Bibelleser immer wieder auf Ungereimtheiten und auf Phänomene, die den Naturgesetzen widersprechen.
"Und so gibt es eine ganze Reihe von Stellen in der Bibel, wo einfach sein kritischer Geist hängen blieb. Und er sagt irgendwo, dass er einfach eines Tages wach wurde, und dann war der Glaube weg. Er konnte (…) einfach nicht mehr glauben."
Gregor Seferens. Er übersetzt seit rund zwanzig Jahren die Schriften von ‘t Hart ins Deutsche. Apropos kindlicher Glaube. Was den direkten Umgang mit der Bibel, was das Deuten und Interpretieren biblischer Texte anbelangt, bleibt der erwachsene Maarten ‘t Hart oft einem allzu wörtlichen, nahezu kindlichen Verständnis verhaftet.
Davon zeugt sein Buch "De Schrift betwist", das er 2011 als nahezu Siebzigjähriger publiziert. Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor; vermutlich zögert der Verlag, weil er dem Autor damit keinen Gefallen täte. Im Deutschen müssten Titel und Untertitel lauten: "Die Bibel in Zweifel gezogen. Die Bibel ist nur heiße Luft". Zu diesem Urteil kommt ‘t Hart, weil er ausgewählte Texte der Bibel lediglich aus dem Blickwinkel eines Naturwissenschaftlers betrachtet. Für die Bibel als großes Kunstwerk, das religiöse Erfahrung inszeniert, für Poesie und Fiktionalität in biblischen Texten, hat ausgerechnet er als Schriftsteller kein Gespür.
"Das ist wirklich erstaunlich, dass er in diesem Buch so wenig Zugänge zur Poetik biblischer Texte gefunden hat." (Klaas Huizing)
Dennoch erweist sich der kritische Atheist ‘t Hart keineswegs als religiös unmusikalisch. Im Gegenteil: An die Stelle calvinistischer Konfession tritt bei ihm Musik.
"Lange konnte er sich nicht entscheiden, wer bedeutender ist: Bach oder Mozart. Er schreibt in einem seiner Bücher auch, dass er lange Zeit immer, wenn er eine Platte von Bach gekauft hat, auch gleichzeitig dann eine von Mozart gekauft hat, eine Aufnahme, um auch ja nicht den einen irgendwie vor dem anderen vorzuziehen." (Gregor Seferens)
Maarten ‘t Hart ist kein gewöhnlicher Musik-Konsument. Das bezeugen zwei Essay-Bände mit den Titeln "Bach und ich" sowie "Mozart und ich". Darin zeigt er sich als mittlerweile äußerst belesener Musikexperte. Das war nicht immer so. Er schreibt rückblickend:
"Achtlos legte mein Gastgeber eine Platte auf, während er sich mit einem weiteren Studienkollegen unterhielt. Ich lauschte der kraftvollen, schnellen Musik. Es war ein Konzert für zwei Violinen und Orchester. Von Haus aus hatte ich nicht die geringste musikalische Bildung mitbekommen. Dann begann der zweite Satz."
"Wie finde ich die Worte, um zu beschreiben, was damals in mir vorging? Dass es die bewegendste musikalische Erfahrung meines Lebens war, steht fest. Nichts davor und nichts danach hat jemals einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht."
Musik als Religionsersatz?
"Es ist kein Religionsersatz. Es ist Religion – es ist Religion."
… sagt der Theologe Klaas Huizing. In seinen Augen beschreibt Maarten ‘t Hart einen Augenblick erhebender Erfahrung, der unverfügbar ist, für den man keine Worte findet. Solche Momente erschüttern Menschen tief und lassen sie zugleich entzückt staunen. Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto bezeichnete sie als Momente des Heiligen, darin zeigt sich das "mysterium tremendum et fascinosum".
"Große Musik hat beides, den Schrecken (…) und dann auch die Faszination, die Weitung, die Erleichterung – und, naja, das ist eine religiöse Erfahrung." (Klaas Huizing)
"Das Paradies liegt hinter mir" – so überschreibt der niederländische Schriftsteller einen Band mit autobiographischen Texten. Darin blickt er als Vierzigjähriger zurück auf Ereignisse und Entwicklungen in Kindheit und Jugend. Haupt- und Nebenthemen seiner Romane zeichnen sich ab. "Das Paradies liegt hinter mir" – ein nüchtern anmutender Titel mit religiösem Anklang. Wer Maarten ‘t Harts Romane liest, vielleicht sogar eine der CDs hört, die seinen Musik-Essays beigefügt ist, wird spüren können, dass – um im Bild zu bleiben – das Paradies möglicherweise nicht völlig verschlossen ist, ja dass Musik hier auf Erden einen Zugang zum Paradies eröffnen kann. Sie vermag – so ein anderes Bild – Menschen an Orte zu führen, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind.
Apropos Paradies. In "Bach und ich" schreibt Maarten ‘t Hart, selbst ein eifriger Klavier- und Orgelspieler:
"So stelle ich mir den Himmel [das Paradies] vor. Es ist November. Es ist windstill, (…) und ich eile zur Grote Kerk in Maasluis. Kalt ist es nicht (…). Genau die richtige Temperatur zum Orgelspielen. (…) Die Passacaglia und die dazugehörige Fuge bilden zusammen ein Wunderwerk sondergleichen."
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Literaturhinweise:
Maarten 't Hart, Das Wüten der ganzen Welt, Roman, Piper Taschenbuch, 1999
Maarten 't Hart, Bach und ich, Piper Taschenbuch, 2002