Es ist die ganz große Bühne. So etwas wie Public viewing. Im Mittelpunkt steht Stephanus, ein Mann aus der jungen christlichen Gemeinde in Jerusalem. Er war ihr Diakon. Seine Aufgabe: die Betreuung der Armen und Kranken. Er hatte, wie es die Bibel sagt, den "Dienst an den Tischen".
Stephanus, ein Mann mit großem Potential. "Voll Gnade und Kraft" (Apg 6,8) sei er und wirke viele Zeichen und Wunder, heißt es in der Apostelgeschichte. Das fällt auf und missfällt einigen Religionsführern in Jerusalem. Sie beginnen Streit mit ihm. Doch "konnten sie der Weisheit und dem Geist, mit dem er sprach, nicht widerstehen". (V 10)
Der Streit eskaliert. Stephanus wird vor Gericht gestellt und der Gotteslästerung angeklagt. Seine Verteidigungsrede aber hat es in sich. Sie entlarvt die Scheinheiligkeit seiner Gegner: "Ihr Halsstarrigen, unbeschnitten an Herzen und Ohren! Immerzu widersetzt ihr euch dem Heiligen Geist, eure Väter schon und nun auch ihr." (Apg 7,51)
Die Szene endet mit aufschäumender Wut. Stephanus bekommt kein faires Verfahren. Es wird kein gerechtes Urteil gefällt. Seine Gegner erhoben "ein lautes Geschrei, hielten sich die Ohren zu, stürmten einmütig auf ihn los, trieben ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn." (V 57f) Jedes Jahr am Zweiten Weihnachtsfeiertag, also am 26. Dezember, gedenken die christlichen Kirchen des Heiligen Stephanus. Er ist ihr erster Märtyrer.
Stephanus ist der "Erz-Märtyrer". Das ist so eine Art Ehrentitel, der seine besondere Bedeutung hervorhebt, der erste in einer Reihe von unzähligen Frauen und Männern zu sein, die im Laufe der Geschichte ihres Glaubens wegen verfolgt und ermordet wurden.
Das Martyrium gehört zum christlichen Glauben. Nimmt man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, so ist das zunächst nichts Bedrohliches, hat noch nichts mit Leiden und Tod zu tun. Es bedeutet einfach nur "Zeugnis geben". Die Jüngerinnen und Jünger Jesu, die ihn erlebt und gehört haben, die mit ihm durch die Städte und Dörfer gezogen sind, verstanden sich als Zeuginnen und Zeugen. Vor allen Dingen die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus ist das bestimmende Thema ihrer Reden und Berichte über ihn. Aus einer Rede des Apostels Petrus:
"Ihr wisst, was im ganzen Land der Juden geschehen ist, angefangen in Galiläa, nach der Taufe, die Johannes verkündet hat: wie Gott Jesus von Nazaret gesalbt hat mit dem Heiligen Geist und mit Kraft, wie dieser umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm. Und wir sind Zeugen für alles, was er im Land der Juden und in Jerusalem getan hat. Ihn haben sie an den Pfahl gehängt und getötet. Gott aber hat ihn am dritten Tag auferweckt und hat ihn erscheinen lassen, zwar nicht dem ganzen Volk, wohl aber den von Gott vorherbestimmten Zeugen: uns, die wir mit ihm nach seiner Auferstehung von den Toten gegessen und getrunken haben." (Apg 10,37-41)
Solches Reden wurde auch immer als anstößig empfunden. Es waren ja nicht nur spannende Geschichten von dem "guten Jesus", sondern auch Erinnerungen an den "provozierenden" Jesus. Ja, er tat Gutes und heilte. Aber er verkündete auch einen Gott, "der mit seinem Arm machtvolle Taten vollbringt. Der diejenigen zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht. Der die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt und die Reichen leer ausgehen lässt." (vgl. Lk 1,51-53)
Schon vor seiner Geburt hat Maria, die Mutter Jesu, dieses "politische" Programm verkündet. In einem Lobgesang, dem Magnificat. Man kann ihn beim Evangelisten Lukas nachlesen. Ein Programm, dass gewiss alle unruhig macht, die sich auf Kosten anderer breit machen, in Religion, Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
Das weihnachtliche "Kindlein auf Heu und auf Stroh, Maria und Josef betrachten es froh" ist im Laufe seines Lebens für viele zu einer Provokation geworden. Jesus von Nazaret hat die Frömmigkeit, das Gottesbild, die Gesetzestreue seiner Zeitgenossen in Frage gestellt und die religiöse Selbstgefälligkeit angeprangert. Er hat sich selbst zu einem Stein des Anstoßes gemacht. Was das für ihn heißt, hatte er deutlich vor Augen. Mehrmals hat er das seinen Jüngerinnen und Jünger angekündigt:
"Er sagte: Siehe, wir gehen nach Jerusalem hinauf; und der Menschensohn wird den Hohepriestern und den Schriftgelehrten ausgeliefert; sie werden ihn zum Tod verurteilen und den Heiden ausliefern; sie werden ihn verspotten, anspucken, geißeln und töten.“ (Mk 10, 33f)
Was Jesus hier für sich voraussagt, das sagt er in aller Deutlichkeit auch denen, die sich ihm anschließen:
"Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. […] Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie an meinem Wort festgehalten haben, werden sie auch an eurem Wort festhalten.“ (Joh 15,18.20)
Wenn Menschen sich damals auf Jesus eingelassen haben und wenn ich mich heute auf Jesus einlasse, dann geht es um dieses "Zeugnis". Es geht um meine Beziehung zu ihm, mein Gottesbild. Was bedeutet er mir? Es geht auch um meine Beziehung zu den Mitmenschen und der Welt, in der ich lebe.
Mein Zeugnis ist konkrete Gestaltung und aktives Handeln aus dem Geist der Frohen Botschaft Jesu. Dabei geht es nicht um eine Konfrontation, Hass oder Verfolgung. Es geht nicht um ein "Blutzeugnis", ein Martyrium. Ich darf zuerst davon ausgehen, dass ich positive Rückmeldungen bekomme und meine Taten und Worte angenommen werden und etwas Gutes bewirken.
Mein Reden und Handeln im Geiste Jesu hat einen Beistand. Seine Jüngerinnen und Jünger tröstet Jesus vor seinem Tod, seiner Auferstehung und Himmelfahrt mit dieser Zusage:
"Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen. Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll, den Geist der Wahrheit […]. Ihr […] kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird.“ (Joh 14,18.15-17)
Dieser Heilige Geist, so sagt Jesus, ist wie ein Lehrer, der in den unterschiedlichen Situationen des Lebens mit mir einen Weg – meinen (!) Weg – sucht, indem er mich an alles erinnert, was Jesus gesagt und getan hat. (vgl. Joh 14,26)
Nicht immer werde ich mir dieses Geistes bewusst sein und seinen Beistand in bestimmten Situationen abrufen oder einfordern. Jesus sagt, dieser Geist sei "in" uns. Vielleicht kann man sagen, dass der Geist mich zum "intuitiven" Handeln ermutigt. Also aus dem Bauch heraus und ohne einen langen Denkprozess.
Das Zeugnis der Jüngerinnen und Jünger Jesu muss nicht auf jeden Fall in den Grenzbereich eines lebensbedrohlichen Martyriums führen. Aber es gibt sie, die Frauen und Männer, die ihres Glaubens und ihres Gewissens wegen verfolgt werden. Ihnen macht er vor allen Dingen Mut:
"Nehmt euch aber vor den Menschen in Acht! Denn sie werden euch an die Gerichte ausliefern […]. Ihr werdet um meinetwillen vor Statthalter und Könige geführt werden […]. Wenn sie euch aber ausliefern, macht euch keine Sorgen, wie und was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde eingegeben, was ihr sagen sollt. Nicht ihr werdet dann reden, sondern der Geist eures Vaters wird durch euch reden.“ (Mt 10,17-20)
Der Geist als Beistand. Vom heiligen Stephanus, dem ersten Märtyrer der christlichen Kirche, berichtet die Bibel in der Apostelgeschichte, in den Kapiteln 6 und 7. Er hat diesen Beistand erfahren. Er gilt gewissermaßen als Beleg für die Zusage Jesu: "Nicht ihr werdet dann reden, sondern der Geist eures Vaters wird durch euch reden." Die Leute, die einen Streit mit ihm vom Zaun gebrochen hatten, konnten eben "der Weisheit und dem Geist, mit dem er sprach, nicht widerstehen". (Apg 6,10)
Das Martyrium kennzeichnet das Leben der christlichen Kirche in den ersten Jahrhunderten. Viele der Apostel sind diesen Weg gegangen. Unzählige Christinnen und Christen sind Opfer der Staatsreligion des Römischen Reiches geworden. Sie verweigerten sich dem Götterkult, der auch die Verehrung des Kaisers als Gott vorsah. Das machte sie zu Feinden des Staates.
Diese Märtyrerrolle zieht sich durch die Geschichte der Kirchen. Immer wieder wurden und werden Christinnen und Christen von Regierenden in totalitären Systemen, in Diktaturen und von deren Herrschern zu Staatsfeinden erklärt. Und es gibt auch andere Gründe der Verfolgung. Da sind die Kriege und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Religionen. Die christlichen Konfessionen, die sich gegenseitig bekämpft haben, haben das Blut derer vergossen, die sie im Glauben Schwestern und Brüder nennen.
Es gibt auch die Blutzeuginnen und Blutzeugen unserer Jahrhunderte. Im Jahr 2000 registrierte eine sogenannte "päpstliche Kommission für neue Märtyrer" 12.692 Märtyrer des 20. Jahrhunderts – allein in der der römisch-katholischen Kirche. [1] Hinzu kommen die der anderen christlichen Kirchen. Hier wird eine neue Sichtweise auf das Martyrium deutlich: ein gemeinsames christliches Zeugnis, ein "ökumenisches Martyrium".
Der evangelische Pfarrer Eberhard Bethge verdeutlichte diesen Gedanken bereits 1969 bei einer ökumenischen Feier anlässlich des 25. Jahrestages des Attentats auf Adolf Hitler. Er sagte, dass das Zeugnis der Blutzeugen des 20. Juli 1944 die Kirchen nötige, das christliche Martyrium neu zu buchstabieren, neu zu beschreiben.
"Wir stehen an der Schwelle eines […] Wendepunktes in der langen Geschichte christlicher Märtyrer. Protestanten und Katholiken haben zum ersten Mal ein partnerschaftliches Martyrium gemeinsam erfahren. Der Jesuitenpater Delp beschwor vor seinem gewaltsamen Tod den evangelischen Zellennachbarn: 'Sorge dafür, dass unsere Kirchen in ihrer Uneinigkeit unserem gemeinsamen Herrn nicht mehr Schande machen. Wir haben es solange getan. Es soll und muss ein Ende haben.' Den Perioden des Gegeneinander und des Nebeneinander folgt nun die des Miteinander im Martyrium. Aus Gottesliebe haben sich Zeugen beider Lager für die Menschenliebe aufgeopfert. Damit ist eine neue Stunde angebrochen. Die Autorität der Opfer zwingt, nicht wieder hinter sie zurückzufallen, sondern nun zusammen an dem 'neuen Alphabet' zu buchstabieren. Diese Aufgabe hat das Siegel gemeinsam durchlittener Todesstunden." [2]
Als Eberhard Bethge 1969, also vor 55 Jahren seine Gedanken zu einer "Ökumene der Märtyrer" vorlegte, hatte sich ihm noch die Frage gestellt, ob denn die beiden Kirchen wüssten, wie sie das "nachbuchstabieren können und ob sie das schon gemeinsam dürfen". Ja, die Kirchen haben es gelernt. Sie dürfen es und sie wollen es. Es gibt heute viele Orte in Deutschland, die "gemeinsame", "ökumenische" Orte des Gedenkens sind. Zum Beispiel die Erinnerung an die "Lübecker Märtyrer": Eduard Müller, Johannes Prassek, Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink. Vier Geistliche. Drei katholische und ein evangelischer Pfarrer. Am 10. Oktober 1943 wurden sie in Hamburg von den Nazis hingerichtet. Wegen Zersetzung der Wehrkraft, Rundfunkverbrechen, Landesverrat, Feindbegünstigung und Verstoß gegen das Heimtückegesetz inhaftiert und nach einem kurzen Prozess vor einem Lübecker Gericht am 23. Juni 1943 zum Tode verurteilt. Zunehmend wurde ihnen deutlich, dass konfessionelle Unterschiede keine Bedeutung mehr haben.
Ich selber darf in Berlin an einem Gedenkort mitarbeiten, der schon von seiner Lage her ökumenisch ist. In Charlottenburg-Nord stehen eine evangelische und eine katholische Kirche nebeneinander. Beide sind ausgerichtet auf die Gedenkstätte Plötzensee, den Ort der Hinrichtung von fast 3.000 Menschen durch die Nazis. Es sind die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum und die Evangelische Gedenkkirche Plötzensee.
In der Krypta von Maria Regina Martyrum sind zwei Namen in die Steinplatte eingetragen: Helmuth James von Moltke und Alfred Delp. Ein evangelischer Adliger und ein Jesuitenpater. Zusammen mit anderen haben sie in dem "Kreisauer Kreis" darüber gesprochen und nachgedacht, wie ein Deutschland nach Hitler und den Nationalsozialisten gestaltet werden muss. Beide wurden 1945 in Plötzensee ermordet. Der Historiker Günter Brakelmann kommt zu dem Schluss, beide, Moltke und Delp, hätten sich "nach ihrem eigenen Selbstverständnis als Christen in ökumenischer Gemeinschaft für den von ihnen bezeugten Gott Jesu Christi hängen lassen." [3]
Der christliche Glaube hat vor und trotz aller konfessionellen Verschiedenheit sein Fundament in der einen Taufe. Ein und derselbe Geist stärkt das Zeugnis der Christinnen und Christen, erfüllt sie und steht ihnen bei. Deswegen kann der Weg der Kirchen in die Zukunft nur ein ökumenischer Weg sein. So sieht es auch die im Oktober zu Ende gegangene "Generalversammlung der Bischofssynode" in Rom. Ausdrücklich heißt es in dem Abschlussdokument:
"In vielen Regionen der Welt gibt es vor allem die Ökumene des Blutes: Christen unterschiedlicher Herkunft, die gemeinsam ihr Leben für den Glauben an Jesus Christus hingeben. Das Zeugnis ihres Martyriums ist beredter als jedes Wort: Die Einheit kommt vom Kreuz des Herrn." [4]
Ökumene, lese ich in dem Dokument, ist nicht nur ein Austausch von Gedanken, eine Ökumene der theologischen Ideen. Es geht auch um einen Austausch von Gaben und Geschenken.
"Das Beispiel der Heiligen und Glaubenszeugen aus anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften ist ebenfalls ein Geschenk, das wir annehmen können, auch indem wir ihr Gedenken – insbesondere das der Märtyrer – in unseren liturgischen Kalender aufnehmen." [5]
Die "Ökumene der Märtyrer" in den Gottesdiensten der Kirchen zu entfalten – das schlägt die Weltbischofssynode vor. Das Gedenken der Märtyrerinnen und Märtyrer anderer christlichen Kirchen in den eigenen Gottesdienstplan aufnehmen – das ist ein starkes Zeichen. Hier wird dann auch die Frage nach einer "amtlich" festgestellten Seligkeit oder Heiligkeit zweitrangig.
Der heilige Stephanus, an den heute erinnert wird, ist noch ein "gemeinsamer" Märtyrer aller Kirchen. Als Erz-Märtyrer, als Erster der Märtyrer, wird es ihm wohl sehr recht sein, keinen Unterschied mehr machen zu müssen zwischen orthodox, evangelisch und katholisch.
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Martin Korden.
Musik:
Songs from the Center of the Earth, Barbara Thompson (1944-2022), Naxos
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Märtyrer#Gegenwart .
[2] Eberhard Bethge in: Brinkfried Naumann (Hg.), Adalbert Bunge, Uri Themal; 25. Jahrestag des 20. Juli 1944. Reden und Predigten, Berlin 1969, S. 28, 14 Zeilen.
[3] Günter Brakelmann, Predigt bei den "Ökumenischen Plötzenseer Tagen 2009".
[4] Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung, Schlussdokument der XVI. Generalversammlung der Bischofssynode, 26. Oktober 2024, Nr. 23.
[5] ebd., Nr. 122.