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"Fürchte nicht den Schrecken der Nacht." (Psalm 91) Gottes-Ahnungen im Dunkel

Feiertag, 30.03.2025

Joachim Opahle, Berlin

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Das Dunkle gilt als negativ. Der Mensch ist für das Helle geschaffen. Orientiert am Licht, ausgerichtet an der Sonne. Die Dunkelheit ist die natürliche Gegnerin des Hellen, die Finsternis der Feind des Lichtes.

Andererseits leuchtet ein: Erst durch die Dunkelheit hindurch kann das Licht offenbar werden. Beides gehört zusammen, das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Aber trotzdem sind dunkel und hell nicht gleichrangig. Denn das Dunkle war zuerst da. Es hat einen Vorsprung.

Das wird deutlich, wenn man sich die biblische Erzählung von der Erschaffung der Welt vor Augen führt: Ganz am Anfang, als die Zeit beginnt und die Welt entsteht, ist sie "wüst und leer", wie es in der Genesis heißt, "und Finsternis schwebte über dem Abgrund". Danach erst wird mit dem göttlichen Befehl: "Es werde Licht" sozusagen das Licht eingeschaltet. Und erst jetzt tritt es zur Dunkelheit hinzu. Beides – Licht und Finsternis bilden jetzt eine Einheit, und beide werden ausdrücklich als gut befunden. Trotzdem gilt das Lichtmachen als die bedeutendere göttliche Leistung des ersten Schöpfungstages.

Auch im weiteren Verlauf der biblischen Heilsgeschichte zeigt sich, dass immer wieder das Licht der Dunkelheit vorgezogen wird. "Lebt als Kinder des Lichtes!", ruft Paulus den Christen in Ephesus zu (Eph, 5,8-9), denn "das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor". Und im Johannesevangelium ist es Christus selbst, der von sich sagt: "Ich bin als das Licht in die Welt gekommen, damit keiner, der an mich glaubt, länger in der Dunkelheit leben muss" (Joh 12,46). Licht wird hier zu einem Synonym für das Göttliche. Die Baumeister der gotischen Kathedralen haben dieses göttliche Licht im Konzept ihrer Fenster architektonisch verwirklicht. Hell und bunt füllt das Licht den Kirchenraum.

Aber auch die Dunkelheit hat ihren Wert in der Glaubensgeschichte Die Finsternis ist keineswegs nur negativ besetzt, wenn es darum geht, eine religiöse Erfahrung zu machen. Es ist deshalb an der Zeit, die Dunkelheit zu rehabilitieren. Denn auch die Dunkelheit eignet sich als Raum für die Ahnung Gottes.

Erst in der Nacht sieht man die Sterne, sagt ein Sprichwort. Die Redensart unterstreicht, dass erst das Dunkle die Voraussetzung dafür schafft, etwas Schönes und Wunderbares wahrnehmen zu können. Die spirituelle Tradition ist voller Beispiele dafür, dass gerade die Finsternis geeignet ist für religiöse Erfahrungen – für den Anhauch des göttlichen Geistes.

Matthias Claudius hat diese Wahrheit in seinem Gedicht von der Sternseherin Lise poetisch ins Wort gefasst:

Ich sehe oft um Mitternacht,
wenn ich mein Werk getan und niemand mehr im Hause wacht,
die Stern` am Himmel an.
Sie gehn da, hin und her zerstreut
als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
wie Perlen an der Schnur.
Und funkeln alle weit und breit,
und funkeln rein und schön;
Ich seh die große Herrlichkeit,
und kann mich satt nicht sehn ...
Dann sagte, unterm Himmelszelt,
mein Herz mir in der Brust:
Es gibt was Besser‘s in der Welt
als all ihr Schmerz und Lust.
Ich werf mich auf mein Lager hin,
und liege lange wach,
und suche es in meinem Sinn,
und sehne mich darnach. [1]

Die Dunkelheit eignet sich dafür, besondere lichtreiche Erfahrungen zu ermöglichen. Da ist zum einen die Nachtwache. Sie bildet in der Bibel zum Beispiel den Auftakt zu einem größeren Ereignis, gleich einer Vorbereitungszeit, einer Askese, bevor mit dem Licht ein besonderes Ereignis anbricht.

Die Israeliten haben vor dem Exodus aus Ägypten die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen: "Eine Nacht des Wachens zur Ehre des Herrn gilt sie den Israeliten in allen Generationen" – so heißt es im Buch Exodus (Ex 12,42). Andere beschreiben die Nacht als Zeit der Unruhe und der quälenden Unsicherheit, etwa der Prophet Jesaia:

"Meine Seele sehnt sich nach dir in der Nacht, auch mein Geist ist voll Sehnsucht nach dir. Denn dein Gericht ist ein Licht für die Welt, die Bewohner der Erde lernen deine Gerechtigkeit kennen.“ (Jesaia 26,9)

Und der Psalm 77 beschreibt den Zweifel an Gott und seiner Hilfe als nächtliches Grübeln:

"Ich rufe zu Gott, ich schreie, ich rufe zu Gott, bis er mich hört. Am Tag meiner Not suche ich den Herrn; unablässig erhebe ich nachts meine Hände, meine Seele lässt sich nicht trösten.  Denke ich an Gott, muss ich seufzen; sinne ich nach, dann will mein Geist verzagen."

Du lässt mich nicht mehr schlafen; ich bin voll Unruhe und kann nicht reden. (…) Mein Herz grübelt bei Nacht, ich sinne nach, es forscht mein Geist“.

An anderer Stelle wird der Schrecken der Nacht zugleich gemindert, ja ihr wird eine eigene Qualität zuerkannt, so als wäre die Dunkelheit sogar eine Voraussetzung dafür, in rechter Weise mit Gott ins Gespräch zu kommen. Etwa beim Weisheitslehrer Jesus Sirach, bei dem es heißt: "Wer den Herrn fürchtet, weiß, was recht ist, aus dem Dunkel lässt er sicheren Rat aufleuchten" (Sirach 32,16) Ein Gebet, das den Schrecken der Nacht ebenfalls ausdrücklich mindert, ist der Psalm 91.

"Wer im Schutz des Höchsten wohnt, und ruht im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: 'Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.' (…) Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt (…) Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt. Dir begegnet kein Unheil, kein Unglück naht deinem Zelt.  Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.  Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt."

Wer sich in Gott geborgen weiß, braucht die Dunkelheit nicht zu fürchten. Mehr noch: Gottesahnungen sind in der Nacht sogar bedeutungsvoller und intensiver zu spüren, denn hier ist das Auge von nichts abgelenkt, der Blick weist nach innen. So gesehen entfaltet die Nacht etwas Tröstliches, zusammen mit der Vorstellung der Ruhe und der Geborgenheit, die das Schlaflager auch mit sich bringt. Joseph von Eichendorff hat ein wunderbares Zeugnis dieser Erfahrung in Worte gefasst in seinem Gedicht "Mondnacht":

Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküsst, dass sie im Blüten-Schimmer
von ihm nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.
[2]

Auch wenn die Dunkelheit einen eigenen Wert für die Gottsuche hat, überwiegt doch das menschliche Streben nach Helle. Der Mensch ist für das Licht gemacht, deswegen wird die Sonne in vielen Kulturen und Religionen bewundert. Aber es gab immer auch Zeiten, in denen die Nacht regelrecht Konjunktur hatte. In der Romantik war die Nacht bei Dichtern beliebter als der Tag. Dem Sternenhimmel und vor allem dem fahlen Mond konnte man geradezu verfallen. Theodor Storm beschreibt uns einen solchen nächtlichen Zauber in seinem Gedicht "Mondlicht":

Wie liegt im Mondenlicht
begraben nun die Welt;
Wie selig ist der Friede,
der sie umfangen hält.
Die Winde müssen schweigen,
so sanft ist dieser Schein;
sie säuseln nur und weben
und schlafen endlich ein.
Und was in Tagesgluten
zur Blüte nicht erwacht,
es öffnet seine Kelche
und duftet in die Nacht.
Wie bin ich solchen Friedens
seit langem nicht gewohnt.
Sei du in meinem Leben
der liebevolle Mond!
[3]

Der nächtliche Sternenhimmel nötigt auch hartgesottenen Nichtromantikern immer wieder ein Staunen ab. Wie kann es sein, dass so unendlich viele Lichter einen unendlichen Raum füllen. Wie klein und unbedeutend scheint doch meine Welt im Angesicht von Millionen und Milliarden von Gestirnen, deren Licht über Jahrtausende zu uns unterwegs ist, die uns sogar noch leuchten, wenn sie selbst vielleicht schon erloschen sind. Gottfried Keller hat den nächtlichen Sternenhimmel als eine kosmische Kathedrale verstanden, die Pracht der Gestirne war für ihn ein einziges Gebet, nachzuhören in seinem Gedicht "Unter Sternen":

Wende dich, du kleiner Stern,
Erde! wo ich lebe,
daß mein Aug', der Sonne fern,
sternenwärts sich hebe!
Heilig ist die Sternenzeit,
öffnet alle Grüfte;
strahlende Unsterblichkeit
wandelt durch die Lüfte.
Mag die Sonne nun bislang
andern Zonen scheinen,
hier fühl ich Zusammenhang
mit dem All und Einen!
Hohe Lust, im dunklen Tal,
selber ungesehen,
durch den majestät'schen Saal
atmend mitzugehen!
Schwinge dich, o grünes Rund,
in die Morgenröte!
Scheidend rückwärts singt mein Mund
jubelnde Gebete!
[4]

"Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages", heißt es in einem alten christlichen Osterhymnus. Darin wird Christus besungen als das Licht, das in der Finsternis aufscheint und neue Hoffnung und neues Leben verheißt. Symbol dafür ist die Osterkerze, deren Licht eine bedeutende Rolle in der Liturgie der Osternacht spielt. Der Brauch, an der geweihten Flamme ein Osterlicht zu entzünden und mit nach Hause zu nehmen, hat sich vielerorts bis heute erhalten. Vorsichtig trägt man das flackernde Licht in einer Laterne mit sich, stets bedacht darauf, dass nicht ein unvermuteter Windstoß es erlöschen könnte. Dieses flackernde, gefährdete Licht erinnert auch daran, dass Licht früher, als es noch keine Steckdosen gab, viel kostbarer war als heute.

Vor allem nach langen Winternächten erwarten wir hoffnungsvoll das erste Tageslicht. Ein Hinweis auf den beginnenden Tag ist der Morgenstern, der sich gleich nach Mitternacht am Nachthimmel zu erkennen gibt. Weil er als erster von der aufgehenden Sonne kündet, spielt er eine mythologisch wichtige Rolle. Er signalisiert, dass die Sonne den Kampf gegen das Dunkel gewinnt und wieder aufscheinen wird. Im Altertum wird der Morgenstern mit der Göttin der Morgenröte gleichgesetzt. Die Bibel bringt den Morgenstern in der Geheimen Offenbarung mit Christus in Verbindung. Er sagt von sich: "Ich bin die Wurzel und der Stamm Davids, der strahlende Morgenstern". (Apk 22,16).

Es waren die Liederdichter der Barockzeit, die den Morgenstern intensiv besungen haben. Angelus Silesius, der Breslauer Lyriker und Arzt, bezeichnet in seinem berühmten Lied "Morgenstern der finstern Nacht" den Auferstandenen als ein Hoffnungslicht in der Dunkelheit. In einer verinnerlichten mystischen Schau soll Christus die Dunkelheit des "Herzens Schrein" erleuchten. Ein Morgengebet voller Inbrunst und Freude darüber, dass die nächtliche Finsternis vom göttlichen Licht überwunden wird. Man könnte geradezu meinen, einem nächtlichen Feuerwerk beizuwohnen, wenn mit immer neuen Beschreibungen der göttliche Schein besungen wird: als "freudenreicher Strahl" und "güldenes Seelenlicht" zur Erhellung der Dunkelheit: "Voller Pracht wird die Nacht, weil dein Glanz sie angelacht".

Ein anderer, Philipp Nicolai, der Autor des Liedes "Wie schön leuchtet der Morgenstern", hat diese Jesus-Licht-Mystik noch zu übertreffen versucht. Auch für ihn ist der Morgenstern als Lichtpunkt am schwarzen Nachthimmel ein mystischer Schein, "lieblich, freundlich, schön und prächtig, groß und mächtig …". In einer nicht enden wollenden Ansammlung von Bildern nennt er ihn ein "leuchtendes Kleinod", die "Flamme der Liebe", den "Freudenschein". Zugleich macht er Anleihen am Hohen Lied der Liebe im Alten Testament und verwandelt die Morgensternverehrung zu einem mystischen Lied der Liebe, zu einem Sehnsuchtslied der Braut, die auf den Bräutigam wartet. Später wird daraus eine Allegorie auf Maria, die Braut Gottes.

In der Kantate zum Fest der Verkündigung an die Gottesmutter hat Johann Sebastian Bach dem Morgensternlied von Philipp Nicolai ein überaus eindrucksvolles musikalisches Zeugnis verliehen, mit kunstvollen Harmonien und einer spannungsreichen Melodik, die an einen barocken Brunnen mit pulsierenden Wasserströmen erinnert. Für mich eine der eindrucksvollsten Bachchoräle überhaupt:

Wie schön leuchtet der Morgenstern
voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn,
du süße Wurzel Jesse.
Du Sohn Davids aus Jakobs Stamm,
mein König und mein Bräutigam,
hast mir mein Herz besessen;
lieblich, freundlich, schön und herrlich, groß und ehrlich,
reich an Gaben, hoch und sehr prächtig erhaben.
[5]

Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Tim Helssen.

Musik:

Die Nacht ist vorgedrungen; Katrin Haag & Thomas Wahl

Herr ich bin dein Eigentum, F. Reithmeier

Bist du bei mir, J.S.Bach (bearb. durch N. Rawsthorne).

Der Mond ist aufgegangen  

Elévation (E.J.L. Missa)

Der Morgenstern ist aufgedrungen, M. Praetorius.

J.S.Bach Kantate, Wie schön leuchtet der Morgenstern, BWV 1.


[1] MATTHIAS CLAUDIUS, Die Sternseherin Lise, aus: Sämtliche Werke, München, Winkler 1986

[2] JOSEPH von EICHENDORFF, Mondnacht, aus: Werke in 5 Bänden. Bd. 1, München, Winkler 2. Aufl. 1980

[3] THEODOR STORM, aus: Werke in zwei Bänden, Hrsg. von Johannes Bolte, insel TB 59, Frankfurt/M. 1974

[4] GOTTFRIED KELLER, Unter Sternen, aus: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, hrsg. von Clemens Heselhaus, Bd. 3, Carl Hanser Verlag München 1958

[5] PHILIPP NICOLAI 1599, aus: Gotteslob, Gebet- und Gesangbuch, Morus-Verlag Berlin 1975, S.530, ISBN 3-87554-132-4

Über den Autor Joachim Opahle

Joachim Opahle, geboren 1956, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er studierte in Freiburg im Breisgau, in Wien, Tübingen und Bamberg Katholische Theologie und Kommunikationswissenschaften. Seit 1993 ist er im Erzbistum Berlin tätig als Leiter der kirchlichen Hörfunk- und Fernseharbeit.

Kontakt: rundfunk@erzbistumberlin.de und www.erzbistumberlin.de