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Über alle Berge – Allerheiligen

Morgenandacht, 01.11.2025

Generalvikar Ulrich Beckwermert, Osnabrück

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Jetzt ist es zu spät. Eine Gelegenheit ist verpasst und kommt nie wieder. Die griechische Mythologie weiß, wer daran schuld ist, dass der Mensch die wichtigsten Momente seines Lebens ungenutzt verstreichen lässt. Es ist der Gott Kairos. Eine Beschreibung dieser Gottheit aus dem 3. Jahrhundert vor Christus klingt wie eine Drohung: "Warum trägst du Flügel am Fuß?" – wird Kairos gefragt und er antwortet: "Weil ich wie der Wind fliege." "Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?", wird Kairos gefragt. "Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet." "Warum bist du am Hinterkopf kahl?" Kairos antwortet: "Wenn ich erstmal vorbeigeglitten bin, wird mich keiner von hinten erwischen."

Das bedeutet: Kairos ist nur vorne an der Haarlocke, am Schopf zu packen, also wenn er direkt auf uns zukommt. Wenn man zu lange wartet, ist die einmalige, günstige Gelegenheit, vorbeigezogen. Weil der Kairos hinten am Kopf kahl ist und keine Haare hat, ist er nicht mehr zu packen. Die Chance ist verpasst.

Manche werden sich vielleicht an solche Kairos-Momente erinnern. Augenblicke, die kein Abwägen erlauben und sofort eine Entscheidung brauchen. Aber was ist, wenn jemand die Gelegenheit verpasst. Kairos kennt keine Gnade. Wenn er weg ist, ist er weg. "Hätte ich doch damals zugesagt..." "Hätte ich mich doch damals sofort gemeldet…" "Hätte ich doch noch einmal angerufen…" Verpasste Gelegenheiten können Menschen noch nach Jahren belasten.

Auch in der Bibel werden solche Momente beschrieben. Als Jesus seine Jünger sammelt, spricht er sie unvermittelt an. Er fragt sie bei der Arbeit oder wenn er sie unterwegs trifft. Der Fischer Petrus ist gerade mit seinen Netzen beschäftigt, als Jesus ihn anspricht. Petrus packt die Gelegenheit am Schopf, lässt die Netze fallen und folgt Jesus nach. Doch als es für Jesus eng wird und sein Weg ans Kreuz führt, bekommt Petrus Angst, seine Nähe zu Jesus könnte für ihn selbst auch gefährlich werden. Und es bekommt zur bekannten Verleugnungsszene: Ehe der Hahn kräht, wird Petrus dreimal leugnen, Jesus zu kennen. Was folgt ist die tiefe Trauer bei Petrus, seinem Herrn im entscheidenden Moment nicht beigestanden zu sein. Doch es ist zu spät, es gibt kein Zurück mehr.

Enttäuscht kehrt der Jünger wieder zu seinen Netzen zurück, um alles zu vergessen.

Doch hier kommt der entscheidende Unterschied zu Jesus: Während Kairos weiterzieht, der Moment unwiederbringlich verpasst ist, kommt Jesus zurück zu den Netzen und wirbt wieder um Petrus. Das ist der Unterschied: Jesus kommt zurück, wieder und wieder. Auch heute noch. Wiederholung ist ein Kennzeichen seines Wirkens und Kennzeichen des christlichen Glaubens. Jedes Jahr – wieder und wieder – feiern die Kirchen die großen Feste Weihnachten und Ostern. Wieder und wieder ist Gelegenheit, den Glauben neu zu entdecken und am Schopf zu packen.

Heute ist Allerheiligen. Die Kirche feiert heute alle ihre Heiligen. Eine neue Gelegenheit, Gott zu begegnen. Viele von ihnen hatten ihre verpassten Kairos-Momente, die verpassten Chancen des Lebens. Wieder und wieder verpasst. Aber das Leben der Heiligen erzählt auch von ihren Jesus-Momenten. Dem Tag oder der Stunde, als sie anfingen, an ihn wirklich zu glauben. Eine Anregung für uns heute, verpasste Momente nicht nur als verpasst zu betrachten. Vielleicht alles ganz anders zu gestalten, ganz neue Gelegenheiten, die sich entwickeln, zu erkennen und anzunehmen und diesmal endlich zuzupacken. Es sind es Momente, die die Hoffnung wieder zurückbringen. Wo Kairos unwiederbringlich über alle Berge ist, bringt der Glaube neue Möglichkeiten, das Leben zu gewinnen. Wieder und wieder. Jeden Tag. Vielleicht schon heute und dann zusammen mit allen Heiligen.

Über den Autor Ulrich Beckwermert

Ulrich Beckwermert ist Generalvikar des Bistums Osnabrück. Er ist 1964 geboren und aufgewachsen in Emsdetten und Bad Rothenfelde. Nach dem Studium in Frankfurt und Wien wurde Ulrich Beckwermert 1990 zum Priester geweiht. Es folgten u.a. Aufgaben als Kaplan, Pfarrer, Regens des Priesterseminars und als Ständiger Vertreter des Diözesanadministrators des Bistums.