"Ein Auge ist, das alles sieht, auch wenn´s in finst´rer Nacht geschieht." Diesen Satz kenne ich aus meiner Kindheit nur allzu gut. So also sollte man sich Gott vorstellen – als einen nimmermüden Kontrolleur, dem nichts, aber auch gar nichts entgeht. Wie unendlich klein und schuldbewusst musste man sich da fühlen.
Aber diese Art der "Gottesvermittlung" ist lange her und hoffentlich auch für immer vorbei. Heute sprechen Pfarrer und Religionslehrer anders von Gott. Da ist er lieb zu den Menschen, immer für sie da, verständnisvoll und unendlich gütig.
Und trotzdem können immer weniger Zeitgenossen etwas mit einem solchen Gott anfangen. Wozu bräuchte man ihn auch? Denn "nett" findet man ja meist die Leute, mit denen man im Alltag gut auskommt. In der Regel hat man nicht viel mit ihnen zu tun, denn sie fallen nicht weiter auf und stellen keine Ansprüche an uns.
Aber trifft das auch auf Gott zu? Ist auch er stets freundlich, gefällig, und damit letztlich belanglos für unser Leben? Wer in die Bibel schaut, der erlebt einen anderen Gott. Dort ist er nicht harmlos, unverbindlich und einfach "nett". Menschen erschrecken geradezu, wenn Gott in ihr Leben eintritt. So erzittert Mose, als er Gottes Stimme aus dem brennenden Dornbusch hört. Er zieht seine Schuhe aus und verhüllt sein Gesicht, denn der Ort der Begegnung mit Gott ist "heiliger Boden". (Ex 3, 4-6) Mose ist überwältigt von der Größe und Andersartigkeit Gottes. Und zugleich wundert er sich, dass Gott ausgerechnet ihn beruft, das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei herauszuführen.
Die Geschichte von der Befreiung Israels zeigt beispielhaft, dass der Gott der Bibel nicht bequem und harmlos ist. Da heißt es: Er hat "das Elend seines Volkes" in Ägypten gesehen und die "laute Klage" der Israeliten gehört. Und er ist "herabgestiegen, um (sie) der Hand der Ägypter zu entreißen." (Ex 3, 7-8) Gott bleibt nicht unbeteiligt angesichts von Unrecht und Gewalt in der Welt. Der Exodus verdeutlicht aber auch, dass dieser Gott Ansprüche an sein Volk stellt. Israel soll die Gebote halten, die Gott dem Mose auf dem Sinai gibt. Nur so kann es die neugewonnene Freiheit bewahren. Und damit soll Israel ein Modell sein für alle Völker der Erde. Eine gewaltige Aufgabe, an der die Israeliten oft genug scheitern. Das Alte Testament der Bibel schildert das ganz offen.
Auch die Botschaft des Jesus von Nazaret ist nicht einfach nett und gefällig. Die Gottesherrschaft, die er verkündet, befreit die Menschen zwar von Schuld und allem Bösen. Aber sie ruft auch zur Umkehr auf. Es geht darum, den Willen Gottes zu erfüllen, und das ganz konkret. Dazu gehört die Bereitschaft, anderen zu vergeben, sich der Schwachen und Ausgegrenzten anzunehmen und Hass und Gewalt zu überwinden.
Gerade weil das Evangelium kein unverbindliches Gerede ist, muss jeder, der sich darauf einlässt, auf Unverständnis und Widerspruch gefasst sein. In den dunklen Stunden des Lebens ist es schwer, diesen Gott zu verstehen. Warum spüre ich seine Nähe nicht? Warum bleibt er stumm? Das ist verstörend. Auch Jesus hat diese Erfahrung machen müssen. Am Kreuz ruft er: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15, 34)
Gott bleibt eben auch der ganz Andere. Im Buch Jesaja sagt er selbst von sich: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege." (Jes 55, 8)
Das anzuerkennen, fällt nicht leicht. Der große Theologe Karl Rahner formuliert es so: "Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten." Es ist wahr: Der Gott, an den Juden und Christen glauben, ist nicht einfach nur lieb. Aber er ist ein liebender Gott, der den Menschen zugewandt ist und sie nicht fallen lässt. Das wird auch dann gelten, wenn wir mit unseren Möglichkeiten am Ende sind.