Vor 100 Jahren ist Franz Kafka gestorben. Wenn ich seinen unvollendeten Roman "Das Schloss" lese, habe ich von Anfang bis Ende das Gefühl, dass es in diesem Roman nie richtig hell wird. In dem Dorf unterhalb des Schlosses, wo die Handlung verbleibt, ist es kalt, dunkel und unwirtlich; so drängen sich die meiste Zeit die Protagonisten der Handlung in nur schwach erleuchteten Räumen, bleiben darin wie eingesperrt. Man spürt als Leser förmlich diese kafkaeske Situation am eigenen Leib, hat den Mief der engen Kammern in der Nase, spürt die Überhitzung dieser Räume. Am liebsten würde man die Fenster aufreißen, wenn es denn welche gibt…
Dieses bedrückende Ambiente erinnert mich an eine ganz besondere Ostererzählung aus dem Johannesevangelium der Bibel. Wir haben ja gerade Ostern gefeiert und tun es noch in diesen Tagen. In dieser österlichen Erzählung werden wir in einen geschlossenen Raum entführt, in dem die Jünger am Abend des Ostertages versammelt sind. Jesus ist vor drei Tagen gekreuzigt worden, die Erzählungen von dessen Auferstehung am Morgen verwirren noch eher, als dass sie Freude auslösen. Noch mehr vom Eindruck des jähen Todes ihres Meisters verängstigt, ziehen sich die Jünger zurück und verschließen die Tür.
Auch hier ist die Atmosphäre bedrückend und dunkel. Die Welt vor der Tür ist bedrohlich, man verkriecht sich in einen geradezu kafkaesken Raum. Und wieder habe ich den Mief einer hermetisch abgeriegelten, kleinen und engen Welt in der Nase…
Einer der Jünger allerdings ist nicht dabei. Hat er es in diesem Mief der Angst und Enge nicht ausgehalten? Will und kann er sich nicht einsperren lassen? Ist er auf der Suche nach Antwort? Auf jeden Fall steht fest: Thomas, oft der Ungläubige genannt, ist nicht dabei, treibt sich draußen herum, lässt sich den Wind und Gegenwind der Welt da draußen um die Nase wehen. Man spürt den befreiten Atem des Herumtreibers, der offensichtlich keine Angst hat und sich hinauswagt.
Ein Wort aus der griechischen Sprache hilft mir an dieser Stelle weiter: Monochnotos, der "Eigenbrötler". Wörtlich übersetzt ist ein Monochnotos der, der „nur einen Atem hat“, nämlich den eigenen. Auf einmal verstehe ich, was es heißt, im eigenen Mief zu ersticken. Ja wenn ich nur den eigenen Atem kenne und rieche, wie einsam und verlassen muss ich dann sein! Kann ich mich dann selbst noch riechen? Habe ich vergessen, was es heißt, einem anderen Menschen zu sagen: Ich kann dich riechen? Nicht nur meinen Atem zu kennen, sondern auch den des anderen einzuatmen? Ich kann dich riechen, weil du mich liebst und ich dich! Ein Hauch von Leben macht sich da breit…
So wird Ostern! Eingeschlossen im eigenen Mief und im Stallgeruch der Angst und Einsamkeit passiert ein großes Aufatmen. Denn, so geht die Erzählung im Johannesevangelium weiter, plötzlich ist er, der auferstandene Jesus, in ihrer Mitte, mit einem Wort, das ihre Angst beruhigt und ihre Enge überwindet: "Friede sei mit euch!" Noch stärker, ja eindringlicher ist das, was er tut: Er hauchte sie an! Sie nehmen seinen Atem auf, seine Lebenskraft. Er hauchte sie an: Es ist dasselbe Wort, mit dem Gott den aus Lehm geformten Adam am Morgen der Schöpfung anhauchte und aus dem Erdling ein lebendiges Wesen machte. Ja, so wird Ostern! Ein neuer Schöpfungsmorgen bricht an in mir und unter uns, angehaucht von ihm, dem Lebendigen und Lebensspender. Nicht der eigene Atem rettet uns, der irgendwann ein letzter sein wird, sondern der des Auferstandenen. Er lässt mich aufatmen und lebendig werden.
Thomas wird es später auch noch erfahren. Er steht für uns alle: Wir selbst sind dieser Thomas, suchend, fragend, immer wieder zweifelnd. Kein vorwurfsvoller Blick treibt uns dabei an, sondern der Anhauch seines Lebens, des Auferstandenen.