Eine besondere Wegstrecke werde ich nie vergessen. Es waren nur ein paar Meter. Ich bin sie mit meinem Vater gegangen. Auf dem Weg in die Kirche, zwischen Auto und Rollator, mussten ein paar Meter überbrückt werden, und er reichte mir die Hand, damit ich ihn sicher führe und er nicht stolpert. Sofort dachte ich, das hast du schon einmal erlebt, es ist nur ein paar Jahrzehnte her. Als du ein Kleinkind warst und Laufen lerntest, bist du auch an seiner Hand gegangen. Jetzt haben sich für kurze Zeit die Rollen vertauscht. Danke, dass du mich begleitet hast; danke, dass ich dich begleiten darf.
Jemandem die Hand reichen, um sich sicher führen zu lassen: Es ist ein Zeichen der Schwäche – aber auch ein Zeichen des Vertrauens. Ein solches Vertrauen finde ich im Gebetbuch der Bibel, in den Psalmen. Da heißt es: "Du bist mein Gott! Dein guter Geist leite mich auf ebenem Land" (Ps 143,10).
In diesem Gebet steckt der Wunsch, das eigene Leben ohne zu große Berg- und Talfahrten bewältigen zu können. Das "ebene Land" steht jedoch auch für den geraden Weg, den man mit Gottes Hilfe gehen möchte. In dieser Bitte steht für mich auch eine Haltung, sein Leben nicht einfach nach dem größtmöglichen Genuss auszurichten, sondern auf den inneren Kompass zu hören, einen dem je eigenen Leben auferlegten Sinn nachzuspüren. Religiös gesprochen: Gottes Willen über dem eigenen Leben zu suchen. In der Sprache der Psalmen steht ein solcher Mensch auf festem Boden.
Ein Psalmvers ist mir besonders lieb: Dort heißt es: "Dein Wort, Gott, ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade" (Ps 119,105). Kein schlechtes Bild für den eigenen Lebensweg, muss man doch auch in der Dunkelheit seinen Weg finden, in unwegsamem Gelände. Und das Wort, das den eigenen Weg erhellt, leuchtet nicht die ganze Landschaft aus, sondern nur den Fuß. Es reicht gerade für den nächsten Schritt, weiter lässt es sich noch gar nicht sehen. Doch das genügt, um am Ende den ganzen Pfad gegangen zu sein. In diesem Psalmwort wird nicht vollmundig ein Gott propagiert, der wie mit einem Strahler den ganzen Lebensweg ausleuchtet, sondern ein Gott, dessen Wort so viel Orientierung gibt, dass man seinen eigenen Weg Schritt für Schritt gehen kann.
Auch Jesus war ein großer Fußgänger und musste Schritt um Schritt tun. Er wanderte – zu Fuß – durch die Dörfer und Städte und redete zu den Leuten davon, dass Gott nahe ist. Am Ende, vor seiner Passion, ist er auf ein Gastmahl geladen, und eine unbekannte Frau salbt Jesus vor allen Leuten seine Füße mit kostbarstem, duftendem Öl. Nicht den Kopf. Ausgerechnet die Füße! Ich möchte es so deuten, dass sie ihn ausrüstet für seinen kommenden Gang, den schweren Weg in den Tod, den er zu gehen hatte. Durch die Salbung der Füße geht die Liebe dieser Frau bei jedem der kommende Schritte Jesu mit. Und mag er auch gezwungen werden, sein Kreuz selbst zur Hinrichtung zu schleppen: Er bleibt der Gesalbte. Und seine Schritte führen ihn nicht allein in den Tod, sondern in das Leben. Die unbekannte Frau mag das erspürt haben.
Am Abend vor seinem Leiden ist Jesus zu einer ganz ähnlichen Tat fähig: Er wäscht seinen Jüngern die Füße. Eigentlich ein Sklavendienst, aber hier gibt Jesus an seine Nachfolger weiter, was er selbst erfahren hat: Die gleiche Geste wie die der Frau: Die Füße werden geehrt. Auch hier ein Zeichen für das Kommende. Denn auch die Jünger und Jüngerinnen werden nach dem Tod Jesu ihre eigenen Wege gehen müssen, die sie zum Grab führen und wieder aus dem Grab hinaus.
Ein alter Freund verabschiedete sich immer mit einem Wort, das für mich großes Gewicht hat. Er gab nach jeder Begegnung diesen Wunsch mit: "Gute Wege!"