Sie gehören zu den eindrucksvollsten Kunstschätzen am Bodensee: die Konstanzer Goldscheiben. Man findet sie in der Krypta des Münsters dort. Es handelt sich um vier runde feuervergoldete Kupferplatten aus dem Mittelalter. Zwei von ihnen zeigen die Kirchenpatrone: den Heiligen Bischof Konrad sowie den frühchristlichen Märtyrer Pelagius, der in der Unterkirche auch bestattet ist. Dazu kommt noch die Darstellung eines Adlers, das Symbol des Evangelisten Johannes.
Die größte Faszination aber geht von der Christusscheibe aus. Sie hat einen Durchmesser von fast zwei Metern und hängt über dem Altar der Krypta. Der goldglänzende Christus blickt den Betrachter frontal an. Er sitzt auf einem prächtigen Thron, begleitet von zwei betenden Engeln an den Seiten. Die rechte Hand hat der Gottessohn zum Segen erhoben, in der linken hält er ein aufgeschlagenes Buch. Kein Zweifel: Das ist der Weltenherrscher, der – wie es im christlichen Glaubensbekenntnis heißt – am Ende der Zeit kommen wird, "zu richten die Lebenden und die Toten".
Das Jüngste Gericht also. Viele Gotteshäuser des Mittelalters führen den Gläubigen das Weltende vor Augen. Kunstvolle Reliefs über den Eingangsportalen und großflächige Wandmalereien im Innern zeigen das dramatische Geschehen der Apokalypse. Über allem thront Christus als strenger Weltenrichter. Er spricht das Urteil über die Menschen und teilt sie ein in Gute und Böse. Die Seligen werden in den Himmel aufgenommen, die Verdammten hinabgestoßen in die Hölle. In drastischer Weise verdeutlichen die Maler und Bildhauer die Qualen der Verurteilten. Furchterregende Dämonen zerren die verzweifelten Sünder in das unterirdische Flammenmeer.
Von alledem ist auf der Konstanzer Christusscheibe nichts zu sehen. Der Künstler, der dieses Werk um das Jahr 1000 geschaffen hat, verkündet eine andere Botschaft. Für ihn ist der endzeitliche Christus kein gnadenloser Richter. Der Sohn Gottes ist voller Mitgefühl. Er spricht eine Einladung an die Menschen aus. Auf den Seiten des geöffneten Buches finden sich Worte Jesu aus dem Matthäus-Evangelium. In verkürztem Latein kann man lesen: "Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch Ruhe verschaffen." (Mt 11,28)
Das ist die zentrale Botschaft des Evangeliums. "Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid." Gott will den Menschen nahe sein. Besonders jenen, die unter der Last ihres Lebens zu zerbrechen drohen, die nicht mehr ein noch aus wissen. In Gottes Gegenwart sollen sie Hoffnung und Geborgenheit erfahren. Der Einladung, die Gott ausspricht, folgt gleich darauf eine Verheißung: "Ich will euch Ruhe verschaffen." Dieses Versprechen wird nicht erst am Jüngsten Tag eingelöst. Es gilt auch für unser Leben hier und jetzt. Auch das hat der Schöpfer der Konstanzer Christusscheibe vor tausend Jahren schon gewusst. Die Kunsthistoriker vermuten, dass er als Mönch im Kloster auf der Insel Reichenau lebte. In den dortigen Werkstätten dürfte die Scheibe entstanden sein.
"Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch Ruhe verschaffen."
Die Worte Jesu haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Sie gelten auch heute. Gerade in unserer Zeit, die so chaotisch erscheint und in der Sorgen und Ängste wachsen. Mitten in diese Unsicherheit hinein verkündet das Evangelium Hoffnung und Zuversicht. Das ist die großartige Botschaft der Christusscheibe in der Krypta des Konstanzer Münsters.