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Friedenstaube

Morgenandacht, 02.09.2024

Ulrike Lynn, Chemnitz

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Am Gesundbrunnen in Berlin sammeln sich täglich hunderte von Tauben. Sie warten geduldig auf die alte Frau, die immer um die Mittagszeit Brotkrumen aus einem Stoffbeutel auf dem Platz verstreut. Es scheint, als würde sie etwas aussäen, und vielleicht tut sie das das ja auch: ihre Liebe zu den Tauben.

Einige Vögel sehen krank aus, ihr Federkleid ist struppig, das Großstadt-Grau spiegelt sich in ihren Augen. Aber diese riesige Vogelschar fasziniert – viele Menschen bleiben stehen, schauen der Alten beim Füttern zu. Ab und an rennen Kinder mitten durch die Tauben, die dann erschreckt durch die Luft flattern. Ihr Flügelschlag ist lauter als das Zetern der alten Frau, die sich um ihre Vögel sorgt.

Bei unserem Berlin-Besuch bleibe auch ich mit meiner Tochter stehen. Gemeinsam beobachten wir das Treiben. „Schau mal, Mama“ sagt sie plötzlich, "da ist sogar die Friedenstaube". Ihr kleiner Finger zeigt auf einen einzigen weißen Vogel inmitten der Schar. Und sie ergänzt hoffnungsvoll: "Das ist bestimmt ein gutes Zeichen."

Keine dieser grauen Großstadttauben hätte in uns das Bild einer Friedenstaube geweckt, aber diese eine weiße sticht deutlich hervor, sie leuchtet regelrecht. Nicht nur für meine Tochter ist sie ein vermeintlich gutes, hoffnungsvolles Anzeichen für den Frieden, gerade in diesen angstvollen, vom Krieg durchzogenen Zeiten.

Das Bild der Taube als Hoffnungszeichen ist schon sehr alt, die weiße Taube als Friedenssymbol aber noch nicht. Sie geht zurück auf eine Zeichnung Picassos: ein grober, schwarzer Stift auf einem weißen Blatt Papier. Vier Striche, ein Auge, ein Schnabel, mehr nicht. Ein grüner Zweig im Schnabel der Taube ist der einzige Farbtupfer im Bild.

Zum allgemeinen Friedenssymbol wird Picassos Tauben-Motiv dann durch seinen Freund, den Literaten Louis Aragon. Er ist auf der Suche nach einem Plakat für den Weltfriedenskongress im April 1949 in Paris – und entscheidet sich für Picassos Lithografie. Das war vor genau 75 Jahren.

"Aber warum eine Taube als Symbol für den Frieden?", fragt Picasso angeblich lachend, "Tauben sind doch habgierige und streitsüchtige Vögel." Dennoch schafft er in den kommenden Jahren weit über hundert Darstellungen der Friedenstaube, meist mit einem grünen Zweig im Schnabel.

Dass die Taube bereits in der christlich-jüdischen Tradition als Hoffnungssymbol galt, war ihm dabei durchaus bewusst. In der Heiligen Schrift spielt die Taube in der Geschichte von der Arche Noah und der Sintflut eine Rolle. Nach der biblischen Erzählung war Noah gemeinsam mit seiner Familie und vielen Tieren auf einer Arche, um von der Sintflut verschont zu bleiben. Nach 40 Tagen Regen und steigender Wasserflut war es endlich ruhiger geworden. Um zu prüfen, ob die Erde wieder begehbar war, schickte Noah zunächst einen Raben und dann eine Taube aus. Dass die Taube zurückkam, war ein Zeichen dafür, dass das Wasser noch sehr hoch stand. Er wartete sieben Tage und schickte dann eine zweite Taube los. Diese kam mit einem frischen Ölbaum-Blatt im Schnabel zu ihm zurück. Da merkte Noah, dass die Wasser sich verlaufen hatten und er in Sicherheit war.

Im jüdisch-christlichen Glauben ist mit dem Ende der Sintflut auch Gottes Versprechen verbunden, dass diese Welt eine Zukunft hat. Die Alte ist jetzt fertig mit Füttern, der Stoffbeutel leer, die Tauben satt und müde. Nur die weiße scheint noch etwas zu suchen."Ja", sage ich und greife nach der Hand meiner Tochter. "Eine Friedenstaube … das ist bestimmt ein gutes Zeichen."

Über die Autorin Ulrike Lynn

Ulrike Lynn wurde 1980 in Erfurt in geboren, studierte in Berlin Germanistik und Philosophie und promovierte im Fachbereich Semiotik. Bis 2023 wirkte sie als Lehrerin und Kreativitätspädagogin an der BIP Kreativitätsgrundschule Chemnitz. Seit 1. August 2023 ist Dr. Ulrike Lynn die Beauftragte der Katholischen Kirche für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025.

Kontakt: hoerfunk@ulrikelynn.com