Heute werden an vielen Orten Kerzen entzündet. Denn heute ist der Tag "Allerseelen", und da ist es alter Brauch, an die Verstorbenen zu denken. Bei mir sind in diesem Jahr viele Menschen gestorben, die mir sehr nahe standen, und für die ich heute eine Kerze anzünde.
Es ist nicht immer einfach, an die Verstorbenen zu denken, das Sterben und der Tod werden in unserer Gesellschaft mehr und mehr ausgeklammert. Der heutige Allerseelentag hält dagegen. Und so richtet der Tag den Blick auch auf die unzähligen Menschen, die Tag für Tag sterben, teils jäh aus dem Leben gerissen als Opfer von Krieg oder Katastrophen. Sie alle sollen aus christlicher Sicht nicht vergessen werden.
Das letzte Buch der Bibel, die "Offenbarung des Johannes", ruft das mit erschütternden Bildern in Erinnerung. Es ist ein geheimnisvolles, schwieriges Buch. Für mich aber gehört es zu den wichtigsten Büchern der Bibel. Es handelt davon, wie der Seher Johannes von Gott einen Blick auf die Welt geschenkt bekommt. Und dabei sieht er eine Welt im Chaos, in der Unheilsmächte das Sagen haben: Kriege, Pandemien, Dürre, Fluten, Lebensmittelknappheit. Und zugleich tut er einen Blick in die himmlische Welt Gottes: Dort ist die Macht Gottes schon sichtbar, dort sind die Todesmächte schon entthront und dort herrscht Friede. Es ist ein Raum, in dem alle Menschen zusammen leben können.
Dieses Buch der Bibel ist streckenweise nur schwer zu ertragen, weil die Kontraste so groß und die Bilder so überwältigend sind. Es gibt Bilder, die mich schockieren, gerade weil sie ein Stück unserer gegenwärtigen Welt abbilden: Menschen, die ihre Macht missbrauchen, um mit Freude kostbares Leben zu zerstören, um wahnwitzige Reiche des Unrechts zu errichten.
Doch auf der anderen Seite hält die Offenbarung des Johannes mit aller Kraft daran fest, dass Gott der letzte Souverän ist. Er lässt die Welt nicht im Chaos versinken. Am Ende steht Rettung. Das biblische Buch der Offenbarung hält beide Dimensionen, die für uns so weit auseinanderklaffen, fest.
In diesem biblischen Buch gibt es eine Szene, die mir nicht aus dem Kopf geht. Da kommen eben jene Opfer der Kriege zu Wort und sie rufen zu Gott mit lauter Stimme: "Bis wann noch? Wann verschaffst du uns Recht gegenüber denen, die auf der Erde wohnen?" (Offb 6,9-10).
Das ist für mich eine gewaltige Vorstellung: Die Bibel ist das Buch, in dem die Fragen der Opfer nicht verstummen. Ihr gewaltsam beendetes Leben bleibt eine Frage, die nicht aufhört, solange die Welt sich noch dreht. Mit dieser Szene knüpft das letzte Buch der Bibel an das allererste Buch an. Das Buch Genesis erzählt von Kain, der seinem Bruder Abel das Leben genommen hat, der erste Mord der Bibel. Die Aussage dieser Erzählung ist: Jede Tötung eines Menschen ist immer ein Mord am Bruder, an der Schwester. Vor der Tat rief Gott noch Kain zu verantwortlichem Handeln auf, ließ ihm aber seine Freiheit zur Entscheidung. Nach der Tat redet Gott ihn direkt an, konfrontiert ihn mit seiner Tat und stellt ihm die Frage: "Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden." (Gen 4,10)
Das ist meine Hoffnung, die ich aus der Bibel schöpfe: Wo Menschen nichts mehr ausrichten können, da bleibt Gott am Werk. Gott fragt die Täter, und er hört die Fragen der Opfer nach Gerechtigkeit. Ich habe große Sehnsucht nach der Wahrheit dieser Worte.
Ich finde es wichtig, dass wir heute, am Allerseelentag, an unsere eigenen Verstorbenen denken – und an die vielen anderen, die wir gar nicht mit Namen kennen, und die doch einen Namen getragen haben und vor Gott einen Namen haben: die Opfer von Katastrophen, Überschwemmungen, von Seuchen und von Krieg. Für sie werde ich heute ein Licht entzünden – in der Hoffnung, dass ihre Stimme von Gott gehört wird.