Anfang des Jahres ist eine Bekannte von mir gestorben, etwa Mitte 50. Sie hinterlässt eine Familie mit zwei Kindern, der Sohn ist 28, die Tochter 25. Die Familie hatte sich intensiv um die schwerkranke Mutter gekümmert und sie gut begleitet, auch der Abschied war gut gestaltet. Als ich die Tochter wieder einmal traf, sagte sie mir:
"Jetzt ist es schon ein halbes Jahr her – und immer wieder erschrecke ich neu, wenn ich meine Mama anrufen oder besuchen will – weil es ja nicht geht. Vom Verstand her weiß ich, dass es für sie am Ende besser war zu gehen. Und ich kann auch glauben, dass sie jetzt bei Gott gut aufgehoben ist. Aber immer wieder gehe ich zum Grab und hoffe, ihr dort nahe zu sein. Ich stelle frische Blumen hin, zünde eine Kerze an, aber es fühlt sich trotzdem so leer an. Sobald Menschen von ihr erzählen, welche Geschichten ihnen mit ihr einfallen, dann ist es mir, als sei sie jetzt unmittelbar neben mir in diesem Raum. Aber sonst frage ich mich ganz oft: Mama, wo bist du jetzt?"
Die Tochter der Verstorbenen nimmt sich viel Zeit, um mit dem Tod ihrer Mutter umzugehen. Dennoch bleibt deren Platz leer – und das tut ganz schön weh, immer wieder neu. Die österreichische Sängerin Christina Stürmer hat über den leeren Platz ein Lied geschrieben mit dem Titel: "Du fehlst hier". Und in dem Lied heißt es:
Wie jedes Jahr, wenn die Blätter fallen / Kommen wir zusammen /
Und wir stoßen auf dich an
Von Jahr zu Jahr, wächst der Tisch / Denn alle sind dabei /
Nur dein Platz bleibt immer frei
Ein Auge lacht, ein Auge weint / Wie ein Film ziehen die Erinnerungen vorbei / Ziehen an mir vorbei
Es tut überall weh, überall dort, wo du jetzt fehlst/
Du fehlst mir, du fehlst hier
Menschen, die nicht unmittelbar von so einem Todesfall betroffen sind, gehen schnell wieder zu Tagesordnung über. Aber jetzt im November werden wir mehrfach an die vielen freien Plätze erinnert, die seit einiger Zeit auf einmal leer bleiben. Schon die Natur erinnert durch die kahlen Bäume deutlich an die Vergänglichkeit, ebenso auch die Reihe von Totengedenktagen in diesem Monat. Heute begehen katholische Christen den Allerseelentag, an dem der Verstorbenen gedacht und für sie gebetet wird. Dieser Tag versucht aber auch eine Antwort zu geben auf die schmerzliche Frage: "Wo bist du denn jetzt eigentlich?"
In manchen Traueranzeigen findet sich schon eine Ahnung davon, dass die Toten nicht einfach weg sind. Da heißt es zum Beispiel: "Aus dem Leben bist du uns genommen, aber nicht aus unseren Herzen." Das ist eine schöne Vorstellung. Sie deckt sich auch mit Aussagen der Trauerforschung, die von den continuing bonds spricht, also von bleibenden Bindungen. Eine Beziehung kann man nicht beerdigen, weil die eine Hälfte eben zurückbleibt. Die Verstorbenen bleiben in den Herzen der Hinterbliebenen.
Für Christen gibt es allerdings noch einen viel schöneren und dauerhafteren Trost. Im Johannesevangelium sagt Jesus: "Wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin." (Joh 14,3)
Wenn Beziehungen bleiben, dann leuchtet die glaubende Zuversicht eigentlich gut ein, dass der Verstorbene auch in der Beziehung zu Gott bleibt, dass es nach dem irdischen Tod ein Weiterleben bei Gott gibt, also das, was viele "Himmel" nennen. Diesen Trost möchte der Allerseelentag all denen zusprechen, die sich nach dem Ort ihres lieben Angehörigen fragen. Dieser Tag erinnert mich an den neuen Platz, den Gott für jeden Einzelnen bereithält – auch für mich.