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Anagnorisis – Wiedererkennung

Morgenandacht, 03.04.2024

Pfarrer Detlef Ziegler, Münster

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Die altgriechischen Tragödien laufen in der Regel auf einen besonderen Moment zu, die sogenannte Anagnorisis, was "Wiedererkennung" bedeutet. Man könnte auch sagen: Zum Schluss lüftet sich nach langem Suchen und Fragen der Schleier, und die tragische Verwicklung löst sich auf, nicht selten auf furchtbare Weise. Denken wir nur an das vielleicht berühmteste Drama des Sophokles, König Ödipus. Als frischgebackener König von Theben macht sich besagter Ödipus auf die Suche nach dem Mörder seines Vorgängers Laios. Denn noch ist die Tat nicht aufgeklärt, Theben leidet seitdem unter der Pest – die göttliche Strafe für den ungesühnten Mord. Ödipus traut sich zu, den Fall zu klären und damit Theben zu erlösen. Und dann entwickelt sich auf bedrückende Weise die ganze Tragik des Ödipus im Duktus seiner Nachforschungen. Am Ende steht er nicht als strahlender Aufklärer und Rächer da, sondern als der gesuchte Täter, der einst im Streit auf einer Landstraße Laios erschlagen hatte, von dem er aber zum Zeitpunkt der Tat nicht wusste, dass er Thebens König war und zugleich sein leiblicher Vater. Und dazu heiratete er auch noch die Königinwitwe, die in Wirklichkeit seine eigene Mutter ist, und zeugte mit ihr vier Kinder. Was für eine tragische Anagnorisis, Wiedererkennung. Von der eigenen Hand geblendet verlässt Ödipus Theben als Bettler, unwissend in tragische Schuld verstrickt und tief gefallen. Aber immerhin: Er hat die Stadt gerettet, die Pest ist vorbei!

Die Stilmittel einer griechischen Tragödie erkenne ich bisweilen auch im Johannesevangelium der Bibel. Auch hier kommt es am Ende zu einer bemerkenswerten, ja ergreifenden Wiedererkennung. Sie hilft mir zu verstehen, was Ostern bedeuten könnte. Ich meine die Begegnung des auferstandenen Jesus mit Maria Magdalena. Frühmorgens war sie zum Grab gegangen, voller Trauer, niedergeschlagen. Das offene Grab versetzt sie in Panik, sie fürchtet, der Leichnam könnte gestohlen sein. Sie scheucht die Jünger auf, beobachtet in Distanz, wie zwei von ihnen das Grab betreten, erst nach ihrem Weggang riskiert auch sie einen Blick hinein.

Und kurz darauf steht er, Jesus, vor ihr. Sie erkennt ihn nicht! Wiedererkennung? Sie hält ihn für den Gärtner. Und sie lässt ihn stehen und geht an ihm vorbei, nur weg von hier, mit all den Tränen und Schmerzen einer zerstörten Hoffnung und Liebe. Als Leser hält man den Atem an. Wer oder was hält sie jetzt noch auf?

Es ist ein hinterher gerufenes Wort! Es ist Jesus, der sich als erster umdreht, hinter Maria herruft. Er sagt nicht irgendetwas, nichts Anklagendes oder ein Trauerwort ob der Trennung. Er ruft sie, mit ihrem Namen: Maria! Damit ist alles gesagt, denn sie, nur sie ist gemeint. Wer so angerufen wird, vermag nicht nur stehen zu bleiben, sondern sich zu drehen, umzukehren. Ostern: eine doppelte Umkehr! Der Auferstandene kehrt sich um zu ihr, und sie kehrt sich um zu ihm, Auge in Auge, von Angesicht zu Angesicht. Anagnorisis, Wiedererkennung: All das geschieht im zärtlich ausgesprochenen Namen. Sie fühlt sich erkannt, getroffen, ja heimgeholt. So erkennt sie ihn wieder, endlich, weil sie sich selbst zutiefst erkannt fühlt.

Das heißt Ostern: Gott kehrt sich zum Menschen, und der Mensch kehrt um zu Gott. Weil jeder und jede wiedererkannt ist im Anruf des eigenen Namens, womit eine Ewigkeit des Lebens versprochen ist. Gott ruft es uns zu und hinterher: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir!"

Wir werden einmal von der Bühne dieser Welt nicht abtreten wie Ödipus, gebeugt und verlassen, sondern angerufen und wiedererkannt, weil unser Name in Gottes Herz geschrieben ist. Anagnorisis…Wiedererkennung!

Über den Autor Pfarrer Detlef Ziegler

Pfarrer Dr. Detlef Ziegler, geboren und aufgewachsen im Ruhgebiet, studierte Theologie, Philosophie, klassische Philologie und Pädagogik in Münster und München. 1985 wurde er in Münster zum Priester geweiht. Von 1990 bis 2001 war er Studienrat am Gymnasium Paulinum in Münster und danach in der Aus- und Fortbildung im Bistum Münster tätig. Zudem hatte er Lehraufträge für philosophische und theologische Anthropologie, Neues Testament und Homiletik in Münster und Paderborn.

Kontakt: ziegler@bistum-muenster.de