Es gibt ein paar fromme Sätze, die mich herausfordern. Einige davon wurden von Menschen verfasst, als sie im Gefängnis saßen – so wie dieser: "Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren quillt er uns gleichsam entgegen."
Der Satz stammt von dem Jesuitenpater Alfred Delp – er wurde 1945 von den Nazis ermordet. Weil er sich im Kreisauer Kreis engagiert hatte, einer Widerstandsgruppe, war er zuvor verhaftet worden. Alfred Delp saß also im Gefängnis und sollte hingerichtet werden. In dieser Situation – auf seine Hinrichtung wartend – schreibt er unter anderem diesen Satz:
"Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren quillt er uns gleichsam entgegen."
Da kämpft einer auf verlorenem Posten gegen ein übermächtiges System, wird verhaftet, zu Unrecht beschuldigt und zum Tode verurteilt – und schreibt dann einen solchen Satz. Mich fordert das heraus. Denn wieviel tausendmal besser geht es mir? Und doch käme ich wohl nicht auf den Gedanken zu sagen: "Die Welt ist Gottes so voll!"
Denn mein Eindruck ist fast ein gegenteiliger: Überall ist Krise – egal wohin man schaut. Und mein Alltag ist so voll, dass mein Leben häufig genug einfach an mir vorbeizieht. Gott gerät dann einfach aus dem Blick. Ja, in Ritualen kommt er schon vor. Seitdem unser Sohn auf der Welt ist, beten wir wieder vor dem Essen. Auch abends gibt es ein Kreuz auf die Stirn, ein kleines Segenszeichen für eine behütete Nacht. Aber Zeit darüber nachzusinnen, dass die Welt Gottes so voll sei?
Die Katholische Kirche gedenkt heute der Apostel Philippus und Jakobus. Sie beide gehören zu den engsten Jüngern Jesu und sind mit ihm umhergezogen, haben seine Predigten gehört, Wunder bestaunt. Und doch – so beschreibt es die Bibel –erkennen selbst die Jünger Gottes Gegenwart manchmal nicht, obwohl Jesus ja noch mitten unter ihnen ist.
Im Johannesevangelium heißt es da: "In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: […] Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Schon jetzt kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. Philippus sagte zu ihm: Herr, zeig uns den Vater. Jesus antwortete ihm: Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen." (Joh 14, 6-9)
Ich finde diese biblische Anekdote sehr tröstlich. Auch Philippus sieht das Offensichtliche nicht, braucht diesen Hinweis von Jesus, um in ihm Gott zu erkennen. Und er ist noch in der privilegierten Situation, dass Jesus in Fleisch und Blut unter ihnen ist. Ein paar Verse weiter verweist Jesus auf das Kommen des Heiligen Geistes, was Christinnen und Christen an Pfingsten feiern. Der Heilige Geist ist das Versprechen, dass Gott – auch nach Jesu Himmelfahrt – weiterhin unter uns ist, oder wie Alfred Delp sagt, "aus allen Poren uns gleichsam entgegen quillt".
Der Haken: Ich muss offensichtlich nach IHM und seinen Spuren suchen. Oder zumindest damit rechnen, IHM und seinen Spuren begegnen zu können. Dazu brauche ich vielleicht eine Unterbrechung und einen Hinweis – so wie der Hl. Philippus. Der Sonntag könnte so eine Unterbrechung sein. Ein ausgedehnter Spaziergang im Urlaub. Ein freier Abend.
Und dann kann ich Gott vielleicht entdecken – auch oder gerade in der Rückschau. Und zwar nicht nur im Schönen, im Guten, in dem, was gelungen ist. Denn die Situation von Pater Alfred Delp war ja alles andere als gut und doch kam er zu folgender Überzeugung:
"Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen. Wir erleben sie nicht durch bis zu dem Punkt, an dem sie aus Gott hervorströmen. Das gilt für das Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern. Die Kunst ist nur, aus diesen Einsichten und Gnaden dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung werden zu lassen. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir oft gesucht haben."