Es ist schon 245 Jahre alt und begeistert noch immer Jung und Alt: Das Abendlied von Matthias Claudius. Eher bekannt unter den Worten dieses Gedichtes: "Der Mond ist aufgegangen." Auch ich mag das Lied sehr, denn in ganz einfachen Sätzen führt es mich gerade am Ende eines gelebten Tages und mit dem Blick auf den Mond in eine ehrfürchtige Haltung hinein:
"Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar."
Heute ist Neumond. In der Schweiz sagen sie auch Leermond dazu: jene Phase, in welcher der Mond zwischen der Erde und Sonne steht und so mit bloßem Auge gar nicht zu sehen ist. Anderthalb Tage dauert der Zeitraum zwischen dem letzten Aufscheinen des abnehmenden Mondes, dem sogenannten Altlicht, bis zum Neulicht: Dem Wieder-Erkennen des anderen äußersten Rands der Mondscheibe, die dann als feine Sichel erkennbar wird. Auch wenn wir in den Neumond-Nächten den Mond nicht sehen, ist er dennoch da. Es ist, als befinde er sich in einem Leerraum – zwischen festgefahrenem Selbstverständnis und Erneuerung.
"Bilder, die man kennt, sieht man nicht", sagt der Maler und Bildhauer Georg Baselitz. Er meint damit die große Gefahr des Über-sehens. Wenn ich etwas ständig vor Augen habe, bemerke ich es irgendwann nicht mehr. Ich habe mich längst satt gesehen daran oder ich meine, es schon in- und auswendig zu kennen.
Dass etwas wichtig ist, merke ich oft erst dann, wenn es fehlt. Mein Herz stolpert über Leerstellen. Mein Auge auch. Auf diese Leerstellen aufmerksam zu werden kann sehr heilsam und erhellend sein. Es lehrt mich, etwas zu vermissen, an das ich mich gewöhnt haben, weil es selbstverständlich geworden ist. Diese Sehnsucht hilft mir, Alltägliches wiederzuentdecken und neu wertzuschätzen.
"Das Ungesehene schauen" ist also eine Art der Sehschule: lernen, genau hinzusehen und auf das achten, was sich meinen Blicken oft entzieht. Dieses Nicht-Gesehene erkennen und dann ins Licht heben, was sonst eher im Schatten verschwindet.
Neumond-Zeit. In unserem Leben brauchen wir immer mal wieder Neumond-Zeiten: Phasen der Erneuerung, in denen wir unser Altlicht gegen Neulicht tauschen. Matthias Claudius würde sagen: Bei diesen Neumondzeiten der Erneuerung dürfen wir auf Gott vertrauen. Viele seiner Werke sind geprägt vom Staunen über die Schöpfung, die auf Gott verweist und Vertrauen schenkt. Wie auch im Abendlied. In ganz einfachen Sätzen will es sagen: all das, was wir erfahren, ist letztlich Gott zu verdanken. Das Tagesgeschehen, alle schönen und schwierigen Momente, dürfen wir darum mit Einbruch der Nacht vertrauensvoll in Gottes Hände legen.
"Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold,
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt."
Für Claudius ist der Mond mit seinen Phasen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit das Sinnbild dafür, dass gerade das Unscheinbare oder Verborgene doch da ist und seinen Wert hat. So lautet die letzte Strophe des Abendliedes:
"Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn."