Ich habe eine Freundin, die gern Briefe schreibt. Richtige handgeschriebene Briefe! Es ist mir immer eine Freude, wenn sie im Briefkasten liegen, In diesen Briefen beschreibt sie, was sie erlebt. Oft stellt sie darin auch ganz besondere Fragen, die mich an existentielle Punkte führen.
Als mein Vater gestorben war, fragte sie mich in einem solchen Brief: "Was ist das Erbe deines Vaters? Was ist dir so wichtig, dass du es weiterführst? Und: Wen begleitest du, wem bist du 'Vater'"?
Diese Fragen haben meine Perspektive verändert. Sie haben mir geholfen, anders auf mein eigenes Leben zu schauen. Dafür bin ich dankbar. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass eine gute Frage öffnet. Sie öffnet mir ein neues Denken. Eine gute Frage hilft oft weiter als eine Antwort.
In der Bibel gibt es solche Fragen, die neue Welten eröffnen. Da denke ich an die Geschichte von der Heilung eines blinden Menschen durch Jesus: "Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas?" (Mk 8,23)
So heißt es da. Es ist für mich eine ganz anrührende, intime Szene. Jesus nimmt den Menschen aus der Öffentlichkeit hinaus vor das Dorf – anscheinend will er kein Schau-Wunder wirken. Zugleich zieht er mit dem Mann aus dessen Alltags-Umgebung heraus. Und dort berührt er ihn, nicht nur die Augen, er legt ihm die Hände auf – es geht um den ganzen Menschen, nicht um ein einzelnes Organ, das geheilt werden muss. Und dann stellt er ihm eine Frage: "Siehst du etwas?"
Für mich klingt die Frage freundlich, einfühlsam, fast schüchtern. Jesus sagt nicht laut: "Ich habe dich geheilt", sondern fragt ihn nach seiner Erfahrung, – ob etwas mit ihm geschehen ist. Noch nie in seinem Leben konnte dieser Mensch auf die Frage antworten: "Was siehst du?" Jetzt kann er es. Und die Antwort lautet: "Ich sehe Menschen."
Kann es eine schönere Antwort geben als diese? Der ehemals Blinde gibt kein großes Glaubensbekenntnis ab. Das ist in diesem intimen Augenblick gar nicht nötig; er blickt auf, darin ist alles enthalten. Vielleicht hat Jesus den Mann nicht nur durch das Handauflegen, sondern durch seine Frage geheilt. "Was siehst du?"
Eine Frage öffnet neue Erkenntnis. Auch Maria Magdalena macht diese Erfahrung. Am Ostermorgen geht sie zum Grab des kurz zuvor gekreuzigten Jesus. Von der Auferstehung weiß sie noch nichts. Sie will dem toten Jesus die letzte Ehre erweisen. Und da begegnet ihr der lebendige. Sie erkennt ihn nicht, denn sie erwartet ihn nicht. Doch er fragt sie: "Frau, was weinst du?" (Joh 20,15). Wie eigenartig, dass sich Jesus ihr nicht einfach zu erkennen gibt. Es scheint, als wolle er sie nicht überfallen mit einer Erfahrung, die viel zu groß ist, als dass man sie in einem Augenblick begreifen könnte. Jesus will nicht bei sich sein, sondern bei ihr.
Und dann fragt er sie: "Wen suchst du?" Maria Magdalena sucht Jesus – freilich noch den gestorbenen Jesus. Dass sie auch den lebendigen Jesus suchen oder finden könnte, das weiß sie noch gar nicht. Jesus fragt sie also ganz vorsichtig in eine neue Erfahrung hinein. Und dann nennt er sie bei ihrem Namen: Maria. In diesem Augenblick erkennt sie ihn. Durch seine Fragen geht Jesus einen Weg mit Maria. Er nimmt sie mit und holt sie heraus aus ihrer Trauer. Er fragt sie hinüber in eine neue Welt.
Diese beiden Fragen: "Was siehst du?" und "Wen suchst du?" könnten auch gute Fragen für den heutigen Tag sein.