Immanuel Kant, vor gut 300 Jahren geboren, gilt als eher trocken und schwer zu verstehen. Umso erstaunlicher ist das, was ich in seiner Metaphysik der Sitten lese. Da konstatiert er voller Leidenschaft dem Menschen einen ausgebreiteten Hang zur "Kriecherei". Und fordert uns dazu auf: "Werdet nicht der Menschen Knechte. Lasst euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten. Das Bücken und Schmiegen vor einem Menschen scheint in jedem Fall eines Menschen unwürdig zu sein. Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird."
Immanuel Kant ringt um eine philosophische Begründung der menschlichen Würde. Ein Mensch darf niemals zu einem bloßen Mittel für einen höheren Zweck degradiert werden. Seine Würde ist unantastbar. In diesem Sinne ist Kants Anliegen auch im ersten Satz unseres staatlichen Grundgesetzes fest verankert.
Aber Kant geht es nicht nur um die Würde des Anderen. Ihm geht es auch um die Würde in uns selbst, die bedroht ist durch eigene Selbsterniedrigung und Kriecherei. Wenn ich mich selbst klein und gering mache, darf ich mich nicht wundern, wenn andere ebenfalls von mir klein und gering denken. Die Selbstverwurmung des Menschen untergräbt die eigene Würde.
Im Übrigen finde ich darin ein genuines Anliegen Jesu wieder. Keine Frage: Es gibt diese Worte Jesu, die als Selbstverwurmung des Menschen fehlgedeutet werden können und es auch wurden, um Menschen klein zu halten: "Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Oder: Wer bei euch der erste sein will, soll der Sklave aller sein." Doch geht es in diesen Worten Jesu nicht darum, Menschen zu kleinen Würmern zu machen; es geht darum, die Menschen, die Jesus nachfolgen, vom Sockel ihrer Selbsterhöhung herunterzuholen und sie zum Dienst an anderen Menschen zu befähigen.
Denn Dienst am Menschen braucht Augenhöhe, keine Anmaßung von oben herab. Den anderen achten, ja lieben kann ich aber nur, wenn ich ein gesundes Maß an Selbstachtung und Selbstliebe mitbringe. Und genau so hat es Jesus auch im Doppelgebot der Liebe auf den Punkt gebracht: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben. Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Eben: Wie dich selbst! Eigenliebe und Selbstliebe sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Weniger vornehm ausgedrückt: Wer sich selbst nicht riechen kann, der stinkt auch anderen.
Wenn ich mir so manche Begegnung Jesu mit vom Leben und vom Schicksal gezeichneten Menschen anschaue, fällt mir genau das auf: Er sucht diese Menschen in ihrer verschütteten Würde auf, die durch andere verunglimpft wurde, aber auch durch die eigene Selbsterniedrigung verloren gegangen ist. Er fragt nicht: "Was kann ich für dich tun?", sondern: Was willst du, dass ich dir tun soll? Wer so nach dem eigenen Wollen gefragt wird, bekommt die Chance, die eigene Würde wiederzuentdecken. Oder wie Kant sagt: "Wir haben eine Pflicht der Achtung gegen uns selbst." Und wenn Jesus zu einem aufgerichteten Geheilten sagt: "Dein Glaube hat dich gerettet!", dann ist es wohl dieser Glaube an sich selbst und der Glaube an den Gott, der es mit mir, mit uns allen gut meint. Wir sind seiner und einander würdig. Das kann mich stark machen. Und diese Stärke brauche ich, um mich für die Würde aller stark zu machen. Denn sie ist wieder, wie eh und je, bedroht.