1783 beklagte die Berlinische Monatsschrift, dass noch niemand eine Antwort versucht habe auf die Frage, was denn eigentlich "Aufklärung" sei. Einer ließ sich nicht lange bitten: Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag wir in diesem Jahr erinnern. Seine Definition setzte ein bis heute maßgebliches Ausrufezeichen. Er sagt: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Und er fügt sogleich hinzu, was der Aufklärung im Wege steht: Es sind dies "Faulheit und Feigheit…Es ist so bequem, unmündig zu sein."
In Kants philosophischem Denken geht es vor allem um eine moralische Ausrichtung menschlichen Tuns. In seinem kategorischen Imperativ bringt er den allgemeinen Grundsatz jeder ethischen Verpflichtung auf den Punkt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Mit anderen Worten: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihnen!" So sagt es Jesus in der Bergpredigt als Goldene Regel und fügt sinngemäß hinzu: Damit ist zugleich alles zusammengefasst, was im Alten Testament an ethischer Weisung ergeht. Auch wenn Kant und Jesus unterschiedlich formulieren, bei der Frage, was sollen wir tun, stimmen sie grundsätzlich überein. Und sie stimmen auch darin überein, wenn Kant darauf besteht, dass damit zugleich die unantastbare Würde eines jeden Menschen aufgerichtet ist. Jeder Mensch, so sagt Kant, ist immer Zweck an sich, darf nie bloßes Mittel sein für andere Zwecke. Die Würde eines jeden Menschen gilt absolut. Kategorisch eben, als Goldene Regel allen menschlichen Tuns.
Die jüdische Philosophin Hannah Arendt betonte, dass nach Meinung Kants niemand das Recht habe, gehorsam zu sein. Sie hatte es kurz zuvor in Jerusalem beim Prozess gegen Adolf Eichmann, den Cheforganisator des Massenmords am europäischen Judentum, miterlebt. Eine klein- und spießbürgerliche, auf Befehl und Gehorsam getrimmte Existenz wie Eichmann wurde zu einem der größten Massenmörder der Geschichte. Hannah Arendt sprach in diesem Zusammenhang von der "Banalität des Bösen", nicht, um etwas zu verharmlosen, sondern um darauf hinzuweisen, dass böse Bestrebungen, ja das Böse schlechthin nur zu oft in einem vermeintlich harmlosen, bürgerlichen Gewand daherkommen. Nicht immer zeigt das Böse eine abstoßende Fratze.
Niemand hat das Recht, gehorsam zu sein, dumpfen Parolen hinterherzulaufen. Es bedrückt mich sehr, dass schon seit geraumer Zeit auch in unserem Land die Würde des Menschen erneut bedroht ist. Sie muss nicht nur erinnert sondern neu erstritten und erkämpft werden gegen jede Form der Diskriminierung, Ausgrenzung und Menschenverachtung. Rechtsextremistisches Gedankengut ist längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen, gepaart mit Mitläufertum, Denk- und Realitätsverweigerung. Dagegen sind viele Menschen seit Monaten immer wieder auf die Straße gegangen. Die Massenproteste zeigen ein anderes, menschenfreundliches, aber auch wehrhaftes Bild von unserer Gesellschaft. Auf Dauer wird diese Form der Massenproteste nicht aufrecht zu erhalten sein; das würde uns alle irgendwann überfordern. Umso mehr braucht es den mutigen und entschiedenen Protest jedes Einzelnen in seinem persönlichen Umfeld, wenn hasserfülltes und menschenverachtendes Reden und Handeln uns begegnen.
Sapere aude, sagt Kant: Hab Mut, dich des eigenen Verstandes zu bedienen! Niemand hat das Recht, gehorsam zu sein. Zu viel steht auf dem Spiel! Seien wir gute Spielverderber, wenn mit der Menschenwürde erneut ein zynisches Spiel getrieben wird.