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Bloßgestellt

Morgenandacht, 04.04.2025

Egbert Ballhorn, Dortmund

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Ich ziehe mich gern chic an, wenn ich ins Theater oder in die Oper gehe. Hemd und Krawatte, das muss sein. Auch wenn es nicht mehr viele tun, ich gönne mir das. Meine Kleidung ist keine Äußerlichkeit. So wie ich mich anziehe, so will ich sein und so will ich mich anderen Menschen zeigen. Kleidung, egal wo sie getragen wird, ist Teil der Persönlichkeit. Schon kleine Kinder wissen genau, was sie morgens anziehen wollen. Wenn sie es an diesem Tag nicht wollen, dann werden sie den Pullover partout nicht tragen. "Kleider machen Leute", das ist wohl wahr. Ich drücke mich durch meine Kleidung aus.

Es geht nicht spurlos an einem vorüber, wenn man in Kleidung gezwungen wird, die man sich nicht selbst ausgesucht hat. Noch schlimmer ist es, vor den Augen aller entblößt zu werden. "Sie blicken mich an und sehen mich. Sie verteilen unter sich meine Kleider, sie werfen das Los um mein Gewand." So heißt es im Passionspsalm der Bibel. (Ps 22,19). Hier wird ein Mensch von seinen Mitmenschen regelrecht ausgezogen. Das Wort "bloßgestellt" sagt schon alles. Die Bildsprache ist zwar über zweitausend Jahre alt, bleibt aber aktuell. Wie schnell macht heute ein Bild die Runde durch die sozialen Medien, und wer darauf zu sehen ist und herumgereicht wird, hat über nichts mehr die Kontrolle. Alle schauen hin und machen ihre Kommentare. Der Psalm beschreibt es so: "Alle, die mich sehen, verlachen mich, verziehen die Lippen, schütteln den Kopf" (Ps 22,8) Ausgezogen und ausgegrenzt zu sein, das ist hier die Erfahrung. Kein Mensch möchte sie machen – doch in den Psalmen findet sie Raum, wie alle menschlichen Erfahrungen.

"Sie verteilen unter sich meine Kleider, sie werfen das Los um mein Gewand". Dieser Psalmvers ist vielen Menschen aus der Passionsgeschichte vertraut. Dort wird geschildert, wie genau das Jesus bei der Kreuzigung angetan wurde. Er wird ausgezogen und gefoltert. Mit seiner Passion tritt Jesus in die lange Reihe von Menschen ein, die von ihren Mitmenschen gequält und bloßgestellt werden, vor aller Augen in ihrer Verletzlichkeit ausgestellt. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass auf den Darstellungen der gekreuzigte Jesus unbekleidet gezeigt wird, dass uns selten bewusst ist, wie außergewöhnlich diese Darstellung ist. Der, auf dem alle Hoffnung ruhte, wird auf dem Tiefpunkt seines Lebens gezeigt, als Folteropfer, bloßgestellt und voller Wunden.

Wer Mensch bleiben will, darf nicht mit denen paktieren, die andere Menschen bloßstellen. Wer menschlich bleiben will, hat die Aufgabe, den unfreiwillig entblößten Menschen liebevoll und mit Achtung wahrzunehmen, ihn mit Augen der Barmherzigkeit zu sehen. Sich in Gedanken und Mitfühlen auf die Seite des Bloßgestellten zu stellen – nicht auf die Seite der Kriegsknechte, die ihre Macht ausspielen und dem Opfer die Kleider herunterreißen.

Die Bibel erzählt: Als die ersten Menschen im Paradies erkennen, dass sie nackt sind, da macht Gott ihnen Kleider, damit sie ihre Blöße bedecken können und voreinander bestehen. Ich sehe das als Zeichen der Achtung, die Gott für uns hat. Gott kleidet ein, er zieht uns nicht aus.

Auch in den Psalmen ist von Kleidern, von neuen Kleidern, die Rede. In einem Psalm bekennt ein Mensch seine Rettung mit jubelnden Worten: "Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt, mein Trauergewand hast du gelöst und mich umgürtet mit Freude." (Ps 30,12). Mit neuen Gewändern bekleidet, mit festlichen Kleidern – so geht es in das Leben hinaus. Gottes Zuwendung hüllt den Menschen ein, gibt ihm neues Ansehen – vor sich selbst und vor anderen. Mit diesen Kleidern kann man sich sehen lassen.

Über den Autor Egbert Ballhorn

Dr. Egbert Ballhorn ist seit 2012 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund. Er studierte Katholische Theologie und Chemie in Bonn, Jerusalem und Wien, war Mitarbeiter im Bonner Sonderforschungsbereich "Judentum – Christentum" und zehn Jahre Leiter der Bibelschule Hildesheim und Dozent für Biblische Theologie am Priesterseminar des Bistums Hildesheim. Er ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.