Über dem Hauptportal des Osnabrücker Doms gibt es eine große Fensterrosette. An sonnigen Tagen fällt hier das Licht in bunten Farben in den Kirchenraum und taucht ihn ein warmes, hoffnungsvolles Licht. Weshalb ich dabei von Hoffnung spreche? Als im Osnabrücker Dom nach dem Zweiten Weltkrieg die zerstörte Fensterrose ersetzt werden sollte, fehlte buntes Fensterglas. Der Hunger der Menschen nach Farben war aber groß. Beim Wiederaufbau ging es nicht nur darum, Wohnraum zu schaffen, sondern auch um die Wiederentdeckung der Farben.
Die Verdunkelungsauflagen, die alle Farben erstickt hatten, waren aufgehoben. Wenn es irgendwie ging, wurden Wohnungen und Häuser gestrichen. Die Natur konnte sich erholen und ergrünte wieder. In zerschossenen Gärten pflanzten die Menschen nicht nur Gemüse, sondern auch Blumen. Auch zerstörte Kirchenfenster sollten repariert werden. Aber nicht mit einfachem Fensterglas. Die Menschen brauchten Farben, um den Kirchenraum vom Grau zu befreien und mit Hoffnung zu erfüllen. Weil es direkt nach dem Krieg nichts anderes gab, besorgte man für die Rosette des Osnabrücker Doms kurzerhand aus Köln Signalgläser der Reichsbahn in den Farben rot, gelb, orange und grün. Bis heute leuchten sie über dem Hauptportal und stillen den Hunger der Menschen nach Farben.
Hunger nach Farben: Den hatte 1944 auch der Theologe und Pastor Dietrich Bonhoeffer. Ein Jahr sitzt er da schon in Haft, von den Nationalsozialisten inhaftiert wegen mutmaßlicher Mitarbeit im Widerstand. Die lange Zeit in der winzigen Zelle setzt ihm zu, er leidet unter der Isolation. Bonhoeffer kann nicht schlafen, weil die zum Tode Verurteilten in der Nachbarzelle die ganz Nacht schreien und wimmern. Bonhoeffer leidet mit. Durch Klopfzeichen an der Gefängniswand versucht er, Kontakt aufzunehmen und mit den Verzweifelten zu beten.
Aber er fühlt auch sein eigenes Leben wegen dauernder Luftangriffe bedroht und weiß nicht, ob er nicht selber am Galgen enden wird. Ihm fehlt seine Verlobte, ihm fehlt menschliche Nähe. Ihm fehlt so viel. Und, so hat er es im Gefängnis in einem Gedicht geschrieben: Ihm fehlen Farben!" [1] Bonhoeffer kann das Grau der Gefängnismauern nicht mehr ertragen. Der Krieg hat alles grau gemacht. Nach einem Luftangriff ist überall Rauch und Staub, Grau in Grau. Und das macht ihn krank.
Bonhoeffer blieb bis zu seiner Hinrichtung ein Gefangener. Jeden Tag dem Grau und der drohenden Hoffnungslosigkeit ausgesetzt. Seinen Hunger nach Farben konnte er nicht stillen. Aber zugleich wuchs auch eine andere Kraft in ihm. Der Glaube, dass Gott das Licht ist, in dem die Farben wieder leuchten können. "In mir ist es finster", schreibt Bonhoeffer im Gefängnis, "aber bei dir ist das Licht." [2]
Das habe ich von Bonhoeffer gelernt: Wo in meinem Leben alles Grau geworden ist, darf ich hoffen, dass es ein Licht gibt, das mein Leben wieder bunt und interessant macht. Dieses Licht war für Bonhoeffer Jesus Christus. Er glaubte den Worten Jesu, wenn dieser von Auferstehung und ewigem Leben sprach. Ewiges Leben – das ist hell und bunt. Das Grau endgültig besiegt und die Farben wiederhergestellt. Als nach dem Krieg der Osnabrücker Dom endlich wieder in Farben erschien, schöpften viele Menschen dort wieder Hoffnung.
Farben machen stark, weil sie Zuversicht schenken. Heute ein paar Minuten den Blick über den Computerbildschirm nach draußen richten auf einen Baum, der jetzt im September anfängt, bunt zu werden: Das hebt die Stimmung und senkt den Blutdruck. Ist der Herbst nicht auch deshalb so reich an bunten Farben, damit wir besser das Wintergrau bestehen?
[1] Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Hrsg. Eberhard Bethge. Gütersloher Verlagshaus Mohn, 15. Auflage, Gütersloh 1985, S. 179.
[2] Ebd.