Zeit … wir können sie messen, nutzen, verschlafen oder totschlagen. Nur eines können wir nicht: sie zurückdrehen. Alles hat seine Zeit heißt es in der Bibel. Wir benutzen viele Redewendungen und Metaphern für das Verstreichen der Zeit: manchmal rennt sie, dann wieder bleibt sie stehen oder zieht sich hin.
Generell unterscheiden wir zwischen subjektiver und objektiver, oder zwischen gelebter und gemessener Zeit. Die gelebte Zeit ist eigentlich nicht messbar, sondern nur erlebbar. Es kommt darauf an, wie wir diese Zeit begreifen und nutzen, wie und womit wir sie füllen. Oftmals sind es nicht die spektakulären Erlebnisse, die unser Leben ausmachen und unsere tiefsten Erinnerungen prägen, sondern die kleinen Dinge des Lebens, Augenblicke, Beziehungen, ein Innehalten im Moment. Die Gegenwart ist ohne Anfang und ohne Ende, sie ist ein immerwährendes Jetzt, sie ist zeitlose Ewigkeit.
In dem Märchen "Der Mönch und das Vögelein" macht Ludwig Bechstein genau dieses Phänomen gelebter Ewigkeit zum Thema. Es handelt von einem jungen Mönch namens Urbanus. Er liebt Bücher, die Sprache, das Wort. Als gelehrter Theologe findet er in der Heiligen Schrift einen Spruch des Apostels Petrus, der lautet: "Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag und eine Nachtwache." Darüber denkt er lange nach. Trotz vieler durchwachter Nächte kann er einfach nicht verstehen, was dieser Satz bedeuten soll. Eines Tages geht er aus dem dunklen Bücherzimmer seiner Bibliothek in den hellen, schönen Klostergarten. Dort hört er einen kleinen Vogel singen. Der Gesang des Vogels berührt ihn tief und zieht ihn regelrecht in einen Bann. Er folgt dem zahmen Tier bis in den Wald. Für eine kurze Zeit vergisst er alles andere um sich herum. Völlig hingerissen konzentriert er sich nur auf das wunderbare, geheimnisvolle Lied des Vogels.
Als ihn seine Verpflichtung zurück in das Kloster ruft, stellt er fest: alles hat sich verändert. Das Gelände ist viel weiter, grüner und schöner geworden. Sonne fällt auf das Kräuterbeet, Rosen ranken am Gemäuer. Das alte Gebäude wirkt größer und majestätischer als sonst. Selbst die kleine Kirche zieren plötzlich drei riesige Türme. Ein völlig unbekannter Pförtner öffnet Urbanus die Tür und fremde Mitbrüder schrecken vor ihm zurück. In der alten Klosterchronik findet er den Satz geschrieben, er, der Mönch Urbanus, sei vor 300 Jahren spurlos verschwunden.
Verwundert ruft er aus: "Waldvögelein, war das Dein Lied? Kaum drei Minuten lang folgte ich Dir und horchte Deinem Gesang und drei Jahrhunderte vergingen seitdem! Du hast mir das Lied von der Ewigkeit gesungen, die ich nicht fassen konnte! Nun fasse ich sie und bete Gott an im Staube, selbst ein Staub!" Und mit diesen Worten zerfällt Urbanus in ein Häufchen Asche.
Ein eigenartiges, geradezu surreales Märchen, fast schon gruselig: Der selbstvergessene Mönch, der in einem Augenblick völliger Hingabe die irdische Zeit regelrecht aushebelt und in einem einzigen Moment die Ewigkeit zu spüren bekommt.
Für mich liegt darin eine sehr hoffnungsvolle und tröstende Botschaft: Sich einem bestimmten Augenblick hinzugeben hat etwas Ewiges und findet außerhalb jeglicher Zeitmessung statt. Urbanus verliert sich nicht über den Büchern in der Ewigkeit sondern im Vogelgesang. Der Wald und der Klostergarten werden ihm plötzlich zum Himmel … zum Himmel auf Erden.
Wenn es uns gelingt, das Dasein im Hier und Jetzt als erfüllten Augenblick zu erleben, voller Präsenz, hellwach und aus der Mitte heraus, dann bekommen wir vielleicht schon heute eine Ahnung davon, was Ewigkeit heißt.