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Fragen in der Bibel

Morgenandacht, 04.11.2023

Egbert Ballhorn, Dortmund

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Da rennt einer mit einem Schild durch die Gegend, darauf steht in großen Buchstaben geschrieben: "Gott ist die Antwort". Das ist das erste Bild einer Karikatur der Peanuts. Auf dem nächsten Bild kommt einer hinterher, der ein zweites Schild hochhält: "Was war die Frage?"

Ja, wie unverschämt ist es doch, anderen Menschen eine Antwort vorzuhalten, wo die Frage noch gar nicht gestellt wurde.

Ich denke oft an diese Szene. Gott als Antwort ist eine Karikatur. Das Spannende ist die Frage. gibt es überhaupt eine Frage, auf die Gott eine Antwort sein könnte? Das Schild erscheint mir deshalb übergriffig, weil der Träger andeutet, selbst über die Antwort zu verfügen. Wer das Gottesschild hochhält, macht nicht Werbung für Gott, er tut so, als könne man ihn mit einem einzigen Wort erfassen, ihn in den Händen halten und anderen Menschen ungefragt vor die Nase halten. Wissen wir denn, wie die Frage lauten könnte?

Oft wird die Bibel als ein Buch der Antworten verstanden, und dabei ist sie doch vor allem ein Buch der Fragen. Gott stellt Menschen Fragen, aber auch Menschen befragen Gott. Sie schenken einander nichts. Einer meiner Lieblingspsalmen in der Bibel besteht fast nur aus Fragen. "Wie lange noch, Ewiger, vergisst du mich ganz? Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht vor mir? Wie lange noch muss ich Schmerzen ertragen in meiner Seele?" (Ps 13,2-3).

Man kann eine Beziehung mit Fragen beginnen, das weiß dieser Psalm. In vielen Psalmen gibt es drängende Fragen. Die härteste Frage überhaupt steht am Anfang von Psalm 22: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum bist du fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?" (Ps 22,2) Dass auch Jesus mit diesen Worten stirbt, dass er aus allen Psalmen, die möglich sind, gerade diese Frage nimmt, das sagt doch schon eigentlich alles aus. Er stirbt mit einer Frage auf den Lippen, die offen bleibt und erst nach seinem Tod durch die Auferstehung am Ostermorgen beantwortet wird.

Jesus ist ein großer Fragender. Er selbst will wissen und stellt Fragen, er stellt aber auch Anfragen an seine Jüngerinnen und Jünger. Schon vom jungen Jesus heißt es: "Er saß inmitten der Lehrer, hörte ihnen zu und stellte ihnen Fragen" (Lk 2,46). Und das erste Wort, das Jesus an seine Jünger richtet, lautet: "Was sucht ihr?" (Joh 1,38)

So beginnt ein Weg des Lernens und der Nachfolge, und die Menschen, die mit ihm gehen, werden von Jesus in neue Dimensionen des Lebens geführt. Jesus fängt nicht an, eine Lehre zu verkünden oder Antworten auf nie gestellte Fragen zu geben. Den Bartimäus, der blind und bettelnd am Wegesrand sitzt, fragt er: "Was willst du, das ich dir tun soll?" (Mk 10,46) Er heilt nicht einfach ungefragt, er lässt sich auf eine offene Situation ein. Und Bartimäus? Er will "aufblicken können". Das wird ihm geschenkt.

"Man antwortet nicht auf eine Frage. Man antwortet dem Fragenden". Dieses Wort des deutschsprachigen jüdischen Schriftstellers Elazar Benyoetz" [1] gilt für alle Fragen der Bibel. "Man antwortet nicht auf eine Frage. Man antwortet dem Fragenden." Wer fragt, stiftet eine Beziehung und lässt sich auf eine offene Dynamik ein.

Einmal fragt Jesus seine Jünger: "Wollt auch ihr weggehen?" (Joh 6,67) Wer so fragt, macht sich verletzlich und abhängig von der Antwort. Jesus gibt die Macht aus der Hand und stellt den Jüngern frei, sich zu entscheiden. Auch sie antworten nicht allein auf die Frage, sie antworten dem, der sie gefragt hat.

Für mich verändert sich die Bibel, wenn ich sie vor allem als Buch der Fragen lese. Sie öffnet mir einen Raum für meine Fragen, und zugleich stellt auch sie mir Fragen, die ich mit Worten oder auch mit meinem Leben beantworten kann.

Was könnte heute meine Frage sein?


[1] Elazar Benyoëtz, Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche, Zürich-Hamburg 2001, 195

Über den Autor Egbert Ballhorn

Dr. Egbert Ballhorn ist seit 2012 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund. Er studierte Katholische Theologie und Chemie in Bonn, Jerusalem und Wien, war Mitarbeiter im Bonner Sonderforschungsbereich "Judentum – Christentum" und zehn Jahre Leiter der Bibelschule Hildesheim und Dozent für Biblische Theologie am Priesterseminar des Bistums Hildesheim. Er ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.