"Na, wie geht’s?" Die Frage geht leicht über die Lippen am Montagmorgen. Man trifft Kollegen wieder nach dem Wochenende; und nimmt an, dass sie es einigermaßen gut und erholsam hatten. Zur Zeit bleibt die Antwort aufs "Wie geht’s?" öfter verhalten. Offenbar ist man Ende Januar, Anfang Februar nicht so gut "im flow" wie zu anderen Zeiten im Jahr. Sogar Studien belegen das. Die Weihnachtszeit, die uns immer einigermaßen gnädig einhüllt, ist längst vorbei. "Winterwonderland" im Januar war auch nur kurz. Gute Vorsätze zum neuen Jahr sind längst über Bord gegangen. Und unbarmherzig liegen noch 11 Monate des Jahres mit vielen Verpflichtungen und ebenso vielen Unsicherheiten vor einem.
Jetzt kommt es darauf an, wie wir selbst Kräfte in Gang bringen. Ich habe ein Vorratskästchen für solche Zeiten, mit Worten, die mich schon haben aufhorchen lassen. Aus den "Selbstversuchen" anderer mit dem Leben stammen sie. Eines ist von Rainer Maria Rilke. Er hat einmal notiert:
"Nichts ist mir zu klein und ich lieb‘ es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß. Und halte es hoch,
und ich weiß nicht, wem löst es die Seele los."
Nichts ist mir zu klein und ich liebe es – trotzdem. Ehrlich: Am Beginn dieses Tages erwarte ich weder große Sprünge noch großartige Ereignisse, und schon gar keine bahnbrechenden Arbeitserfolge. Warum also nicht gleich bewusst Kleines fokussieren und wertschätzen? Zum Beispiel die Zeile eines Morgenlieds, in der einer mal dankbar gedichtet hat:
"Dass unsre Sinne wir noch brauchen können
und Händ‘ und Füße, Zung und Lippen regen."
Oder ich schau Kleinigkeiten an, die ich um mich habe, scheinbar selbstverständlich – das weiche Handtuch nach dem Duschen; die selbstgemachte Marmelade noch aus einem Weihnachtspäckchen; die Tulpen, die über Nacht wieder gewachsen sind und sich nun biegen wie im Gemälde von Gabriele Münter.
Gelegentlich habe ich tatsächlich gemacht, wozu Rilke geraten hat: "Mal es auf Goldgrund und groß." Ja, da hab‘ ich einen A4-Bogen goldenes Tonpapier genommen und darauf die Umrisse meiner Hand nachgezeichnet. Oder eine von den Tulpen skizziert. Oder das Wort "fein" draufgeschrieben – für die Marmelade oder das warme Duschtuch. Oder einfach "Danke".
Etwas Alltäglich-Kleinem ein ganzes Blatt widmen – es in einen großen Rahmen stellen. Das allein macht weit. Und weckt in mir die Erinnerung: Gold – das ist in der Kunst die Farbe des Himmels. Rilkes Rat, das Winzige auf Goldgrund zu malen, führt mich da hin: Nimm einfach mal an, dass auch hinter den kleinsten Dingen Himmel liegt. Gerade hinter dem Kleinsten. Weil es dem Himmel Raum lässt; weil das Kleine den Himmel nicht zukleistert oder vernagelt mit "Schaut doch, wie wichtig ich bin." Rilke weiß dazu noch eine Steigerung: Halte es hoch, das Kleine auf dem Goldgrund. "Und ich weiß nicht, wem löst es die Seele los."
Ich käme nicht auf die Idee, dass meine Morgenübung nach Rilkes Vorschlag bei anderen etwas bewirkt. Weil sie klein ist, ist sie absichtslos. Für mich kann ich sagen: Sie erhöht die Chance, dass ich als verträglicher Mensch in den Tag gehe. Und vielleicht löst das tatsächlich bei anderen etwas aus. Nicht weil ich fromme Bekenntnisse oder gar Ratschläge bereithalte. Aber weil es bei Menschen manchmal den engen Blick oder das schwere Herz löst, wenn in ihrer Umgebung jemand den Himmel auf dem Schirm hat. Den weiten Horizont. Diesen Himmel, der Gold wert ist, weil unter ihm noch etwas wachsen kann. Von dem Jesus schließlich auch sagte: "Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn" (Mk 4,31).