Wenn ich Gott im Gebet um etwas bitte, dann halte ich es zumindest für möglich, dass er mir hilft. Aber wie viel darf traue ich ihm eigentlich zu? Ein wenig Trost, ein kleiner hilfreicher Zufall? Oder ist es doch vorstellbar, dass Gott echte Wunder vollbringt, die den Lauf der Welt verändern? Der argentinische Autor Jorge Luis Borges gab darauf einmal eine spannende Antwort in Form einer Kurzgeschichte. Sie handelt von einem jüdischen Schriftsteller namens Jaromir, der 1939 von der Gestapo verhaftet und zum Tod durch Erschießen verurteilt wird.
Bis zum Tag der Hinrichtung steht er fürchterliche Angst aus – aber nicht nur vor dem drohenden Erschießungs-Kommando. Wie wahrscheinlich alle Künstler wünscht sich Jaromir, etwas von bleibendem Wert zu schaffen, größer als er selbst. Und nun ist die Zeit, die ihm dafür bleibt, auf einmal praktisch abgelaufen. Ein großes Werk hatte er zwar schon in Arbeit, ein Vers-Drama mit tiefem symbolischen Sinngehalt, aber er bräuchte nicht weniger als ein Jahr, um es abzuschließen.
In seiner Verzweiflung ruft Jaromir zu Gott, dem Herrn über Zeit und Ewigkeit, er möge ihm die fehlende Zeit schenken – nur das eine Jahr, um sein eines Meisterwerk vollenden zu können. Im Traum erhält er nachts eine Antwort: Seine Bitte wird ihm gewährt. Am anderen Morgen aber kommen zwei Soldaten und führen ihn zur Hinrichtung. Das Erschießungs-Kommando legt an – aber dann geschieht das Wunder: Die Zeit bleibt einfach stehen. Die Soldaten rühren sich kein Stück, und selbst der Wind und der Rauch einer Zigarette sind wie eingefroren.
Auch Jaromir kann sich nicht bewegen, spürt aber auch keine Erschöpfung, keinen Hunger, Durst oder Schmerz. Und endlich begreift er: Seine Bitte ist in Erfüllung gegangen. Allein in seinem Kopf beginnt er, sein großes Versdrama aus dem Gedächtnis weiter zu schreiben. Kein anderer Mensch wird es jemals lesen oder auch nur davon ahnen, aber der Schriftsteller arbeitet aus Liebe zur Kunst und zu seinem Werk unermüdlich weiter. Nach geraumer Zeit, als er im Geist die letzte Zeile verfasst hat, nimmt auch die Welt wieder ihren Lauf – die Soldaten erschießen ihn.
Manche werden an dieser Geschichte ein richtiges Happy End vermissen. Borges schrieb sie 1943, als der Terror der Nazi-Diktatur noch lange nicht vorbei war. Eine Erzählung, in der Gott rettend eingreift wie in einem biblischen Wunderbericht, hätte damals bestenfalls naiv gewirkt. Auch die gläubigsten Menschen zweifelten damals mehr als je zuvor, ob es wirklich einen gütigen Gott gibt, der die Macht hat, das Schicksal der Menschen zum Guten zu wenden. Viele fragten sich, wie das bei so viel Leid überhaupt denkbar sein soll?
Die Erzählung vom Geheimen Wunder schlägt dazu eine ungewohnte Möglichkeit vor: Hier macht Gottes Handeln einen riesigen Unterschied, und für eine einzige Person ist das auch vollkommen unbezweifelbar. Jaromirs Herzenswunsch geht in Erfüllung. Er kann das eine große Werk vollenden, an dem ihm so viel liegt. Er darf in der Gewissheit sterben, dass seine Mühen, ja, dass sein ganzes Leben nicht vergeblich war. Aber niemand, wirklich niemand sonst ahnt davon auch nur das Geringste – nicht die Soldaten, die ihn ermorden, und genauso wenig die Freunde, die um ihn trauern.
Gerade als gläubiger Christ kann ich mit dieser Sicht der Dinge gut leben. Gott lässt sich nicht so leicht in die Karten schauen. Es wird ganz oft nicht offensichtlich sein, wie er die Leidenden tröstet und den Unterdrückten Gerechtigkeit verschafft. Wir werden nie mit mathematischer Sicherheit beweisen können: Hier hat er gehandelt und dort nicht. Aber wir dürfen ihm alles zutrauen.