Man muss auch gönnen können! – Das hört sich gut an, und es sagt sich so leicht. Aber was wäre wohl passiert, wenn besagtes Bonmot breit akzeptiert worden wäre?
Abel wäre nicht ermordet worden! Er, der Erfolgreiche, der Angesehene, der von Gott Gesegnete. Mit dem, was er hat und kann, steht er gut da. So erzählt es die Genesis, das erste Buch der Bibel. Sein Opfer, also der Ertrag seiner Arbeit, findet das Wohlwollen Gottes. Er steht ganz vorn. Und Kain, der eigene Bruder, steht dahinter, nur in der zweiten Reihe. Er hat sich nicht minder ins Zeug gelegt und muss jetzt die Erfahrung machen, dass der Jüngere ihm vorgezogen wird. Man muss doch auch gönnen können! Genau das bringt Kain nicht fertig, sein Blick verdüstert sich, Neid frisst seine Seele. Das Erste, was hier vom Menschen nach dem Verlust des Paradieses erzählt wird, ist der Brudermord. Kain erschlägt Abel, weil er nicht gönnen kann!
Die Erzählung von Kain und Abel ist ein Mythos. Ein Mythos erzählt, was immer und überall passiert, seit es Menschen gibt auf dieser Erde. Dieser Mythos erzählt, wie Menschen Gefahr laufen, über Leichen zu gehen, wenn sie sich mit anderen vergleichen und sich ungerecht zurückgesetzt, übersehen fühlen. Der Apostel Paulus sieht diese ernüchternde Realität sogar in den christlichen Gemeinden gegeben. Den Galatern schreibt er: "Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so passt auf, dass ihr nicht einer vom andern aufgefressen werdet." (Gal 5,15) Kain lässt grüßen…
Doch zur Realität gehört: Wir sind nicht alle gleich. Wir sind es zwar vor dem Recht, in unserer Würde, vor allem vor Gott. Aber wir sind verschieden. Der eine kann mehr, der andere weniger. In einem irischen Segen aus dem Jahre 1692 heißt es: "Wenn du dich selbst mit anderen vergleichen willst, wisse, dass Eitelkeit und Bitterkeit dich erwarten. Denn es gibt immer größere und geringere Menschen als dich. Freue dich an deinen Erfolgen und Plänen."
Hier artikuliert sich ein anderer "Spirit", ein anderer Geist. Aus der Ökonomie wissen wir, dass ein Unternehmen mit einem menschenfreundlichen, kooperativen Spirit oft erfolgreicher ist als ein Unternehmen, in dem Partizipation und Kooperation kleingeschrieben werden. Das weiß auch der Apostel Paulus und schreibt es vor allem der korinthischen Gemeinde in ihre "Geschäftsgrundlage": Ja, wir sind verschieden, aber jeder und jede ist wichtig. Jeder kann etwas und jede hat etwas beizutragen, die eine mehr, der andere weniger. Einer allein an der Spitze, zumal auf Kosten anderer: Das ist nicht gut!
Buntheit und Vielfalt sind nicht nur gut, sie tun gut, im Gegensatz zu einer Uniformität und Einfalt, die eine klare Linie propagieren, dabei aber viele querlaufende Linien und Farbtupfer ignorieren und die Lebendigkeit einer Gemeinschaft und Gemeinde auf Dauer sterilisieren. Einspurigkeit und die Leugnung von Ambivalenz schreien zudem oft nach dem starken Mann und der starken Frau: Geh du voran, wir folgen! Beispiele dafür gibt es zuhauf, auch in den Kirchen….
Vielfalt tut gut. Sie zu akzeptieren und zu fördern, gewährleisten gegenseitigen Respekt und Wertschätzung. Es kommt nicht nur auf den Einen an, sondern auf viele, ja alle. Auch wenn die Talente und Charismen ungleich und verschieden verteilt sind: Jeder und jede hat etwas beizutragen, an seinem Ort und zu ihrer Zeit. Und jeder und jede darf mit vollem Recht sagen: Wenn es mich nicht gäbe, würde etwas fehlen! Das Kompliment gönne ich mir, und ich gönne es anderen: Gut, dass es dich gibt! Sonst würde etwas fehlen.
Lieber Kain, freue dich doch bitte mit und über Abel! Ihr seid so verschieden und doch beide so wichtig.