Im Zug ist mir unlängst der Kragen geplatzt. Das Abteil war brechend voll, so dass Leute stehen mussten. Ich war den ganzen Tag unterwegs und endlich auf der Rückfahrt nach Hause. Aber die Verspätung wurde immer größer. Und dann waren da noch die beiden Kinder, vier, fünf Jahre alt und eine ältere Dame, die sie beaufsichtigt hat.
Wenn sie das nur getan hätte. Die Kinder balgten herum, immer lautere Schreie waren die Folge. Ihre Schuhe auf den Sitzen, aus dem Handy laute Musik. Und nebendran die Frau, am ehesten ihre Großmutter, wie ich vermutet habe, die in einer Illustrierten las. Zwischendurch halbherzige Versuche die beiden ihr Anvertrauten zur Räson zu bringen. Das hielt dreißig Sekunden, dann ging`s wieder los, das Theater. Ich hab‘ mir das angeschaut und gedacht: "Das musst Du halt tolerieren. Sind schließlich Kinder, meine Güte, in einer Stunde bist du daheim." Dann hat sich erst eine, dann noch eine zweite Person aus dem Wagen verdrückt – unübersehbar weg von dem Dauergeschrei, und der Erziehungsberechtigten, die nichts unternommen hat.
Als ich dann fast am Ziel war, hab‘ ich es einfach nicht mehr ausgehalten. Nein, das ist nicht in Ordnung, das willst du nicht tolerieren, nicht einfach so hinnehmen. Obwohl ich weiß, dass es besonders heikel ist, an Kindern etwas zu kritisieren, bin ich zu den Drei hingegangen. Und hab gesagt, dass es so nicht geht, dass das eine Zumutung ist, dass auch Kindern Grenzen aufgezeigt gehören. Betretenes Schweigen der Betroffenen, zustimmendes Nicken der anderen Mitfahrenden.
Warum bloß traut man sich so oft nicht, etwas zu sagen? Das erlebe ich ähnlich in vielen anderen Alltagssituationen. Wenn am Bahnsteig die Ersten schon einsteigen, bevor die Ankommenden den Zug verlassen haben. Oder wenn Verkäuferinnen mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit der Kundschaft, obwohl die Schlange immer länger wird. In der Nachbarschaft lässt einer seine Hecke so weit auf den Bürgersteig wachsen, dass zwei Leute nicht mehr aneinander vorbeikommen, geschweige denn ein Kinderwagen.
Mag sein, dass ich in bestimmten Launen auch überempfindlich bin, dann mag es ratsam sein, erst mal durchzuatmen, bevor ich reagiere. Aber muss ich immer alles dulden? Oder darf ich sagen: "Das ist rücksichtslos, egoistisch. Das will ich nicht. Sie sind nicht allein auf der Welt, sondern teilen die Welt mit anderen. Bitte denken sie auch an die."
Mir fällt auf, dass es immer mehr um sich greift, dass manche zuerst an sich selbst denken und sich dabei Dinge herausnehmen, die Folgen für andere haben. Selbstverständlich passiert mir das auch. Vor allem, wenn ich gestresst oder genervt bin. Ich nehme mich da überhaupt nicht aus. Aber: Dann müsste ich damit rechnen, dass andere mir das sagen. Nein, nicht bloß damit rechnen, dann wäre es gut, es würde helfen, wenn andere nicht tolerieren, dass ich mich danebenbenehme. Im Grunde bin ich darauf sogar angewiesen auf diese Zurechtweisung, wenn sie berechtigt ist und freundlich geschieht.
Toleranz ist wichtig für unser Zusammenleben. Ich muss nicht sofort reagieren. Ich muss auch mal den Mund halten und über etwas hinwegsehen. Aber nicht aus Angst oder Gleichgültigkeit, sondern weil es eben in der Situation klüger ist.
Aber eben manchmal auch nicht!! Wenn es nämlich mit Toleranz nichts mehr zu tun, sondern feige ist. Echte Toleranz kommt da an ihre Grenzen, wo mein Verhalten andere in Schwierigkeiten bringt. Und nur wenn wir diese Grenzen kennen und einhalten, wenn es Menschen gibt, die dafür sorgen, und nicht wegschauen, erst dann klappt es mit dem Zusammenleben.