Noch nie hat man Papst Franziskus so erschüttert gesehen wie am 8. Dezember vergangenen Jahres. Es ist das Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, ein Hochfest in der Katholischen Kirche und ein Feiertag in Italien. Traditionell betet der Papst an diesem Tag vor der Mariensäule nahe der berühmten Spanischen Treppe in Rom. Nun steht Franziskus vor der Figur der Gottesmutter, umringt von vielen Gläubigen und begleitet vom Bürgermeister der Ewigen Stadt.
Zunächst erinnert er an das Leiden so vieler Menschen in der Zeit der Pandemie. Dann kommt der Papst auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Eigentlich habe er vorgehabt, Maria den Dank des ukrainischen Volkes für den Frieden zu überbringen. Plötzlich kann Franziskus nicht mehr weitersprechen. Seine Stimme versagt. Er weint und senkt den Kopf. Die Menschen auf der Piazza sind ergriffen. Spontan applaudieren sie in die Stille hinein, um Franziskus zu zeigen: Wir fühlen genauso wie Du. Wir denken an das unermessliche Leid so vieler Männer, Frauen und Kinder in diesem erbarmungslosen Krieg, der nun schon so lange tobt und einfach kein Ende nehmen will.
Lange hatte der Papst versucht, zwischen Kiew und Moskau zu vermitteln. Aber Putin reagiert nicht darauf. Franziskus erkennt, dass er - jenseits aller Diplomatie - Partei ergreifen muss für die Menschen, die auf so brutale Weise Opfer eines verbrecherischen Überfalls geworden sind.
Mitleid zu haben mit all jenen, die so viel Unrecht und Gewalt erdulden müssen, das bedeutet: Nicht wegschauen, Gleichgültigkeit überwinden, das Elend der Verzweifelten an sich heranlassen. Doch es bleibt nicht bei einem bloßen Gefühl, wie das Beispiel Jesu zeigt.
Die Evangelien in der Bibel erzählen zunächst, dass Jesus „Mitleid“ hatte mit den Armen, Kranken und Ausgegrenzten seiner Zeit. Da ist der Aussätzige, dessen Schicksal Jesus anrührt. Oder die Mutter, die den Tod ihres einzigen Kindes beweint. Oder die tausenden von Menschen, die ihn am Ufer des Sees Genezaret erwarten.
„Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ (Mk 6,34)
Aber das Mitleid fordert heraus, drängt zur Aktion, zur konkreten Hilfe. Und das geschieht. Jesus heilt den Aussätzigen. Er erweckt den toten Jüngling und gibt ihn seiner Mutter zurück. Er verkündet der Volksmenge am See die Frohe Botschaft und speist sie danach in Form der wunderbaren Brotvermehrung.
Es geht im christlichen Glauben nicht um eine Gesinnung. Im Mittelpunkt steht die Nächstenliebe, die Solidarität mit jenen, die leiden. So ist „glauben“ im eigentlichen Sinne ein „Tätigkeitswort“.
Im Evangelium geht Jesus noch einen Schritt weiter: Er identifiziert sich ausdrücklich mit den Notleidenden: den Kranken, den Hungernden, den Obdachlosen, den Verfolgten. Und das tut er mit letzter Konsequenz, bis zum Tod am Kreuz.
Mitleid bedeutet im Kern nicht weniger als ein „Mit-leiden“ mit den Opfern. Die Sprachlosigkeit des Papstes, sein Schluchzen und seine Tränen angesichts des Leids der Menschen in der Ukraine haben genau das verdeutlicht. Fast ein Jahr dauert dieser Krieg jetzt schon. Aber an die schrecklichen Bilder, die das Elend seiner Opfer zeigen, darf man sich nicht gewöhnen. Eine Gesellschaft, in der die Empathie keinen Platz hätte, wäre nicht nur eine mitleidlose und damit unmenschliche Gesellschaft, sondern auch eine gottlose.