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Morgenandacht, 06.02.2024

Maria-Anna Immerz, Dillingen

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Wie war das bei Ihnen damals? Als Sie neu eingezogen sind – ins Haus oder in die Wohnung, wo Sie heute leben. Erinnern Sie sich noch, wie Sie damals Kontakt bekommen haben zu den neuen Nachbarn? Vielleicht haben Sie bei den nächsten Nachbarn geläutet und sich kurz vorgestellt als der oder die Neue. Vielleicht witzige Grüße in Briefkästen gesteckt – "Hallo, wir sind jetzt auch hier!" Hat man Kinder, gehen erste Kontakte sowieso fast von allein.  

Ich lebe in einer Wohnanlage, in der auch viele kleine Wohneinheiten sind. Naturgemäß wechseln da Mieter öfter. So kommt es, dass ich Leute, die mit mir unterm gleichen Dach wohnen, gar nicht kenne. Den neuen Namen lese ich am Klingelschild. Persönlich getroffen habe ich manche noch nie. Von einer Mitbewohnerin zwei Türen weiter weiß ich nach Wochen noch nicht, wie sie aussieht. Und doch habe ich eine Idee von ihr. Schließlich sehe ich regelmäßig etwas von ihr, Schuhe nämlich. Im kleinen Regal vor der Wohnung. Die neue Nachbarin hat Schuhe mit hohen Absätzen; ein Paar mit Silber-Glitzer; und solide Sportschuhe. Alles in kleiner Größe, ich stelle mir eine zierliche jüngere Frau mit Stil vor. Vielleicht tanzt sie gerne und ist viel mit Leuten unterwegs.

Vom Mann, der wiederum die Wohnung neben ihr hat, sehe ich ausschließlich Freizeitschuhe. Eher ein lockerer Typ wohl und Single.

Manches lerne ich dabei: Leute, die in sozialen Medien zuhause sind, haben dort ihre Nachbarn und Freunde. Hausgemeinschaften nach früherem Zuschnitt treten in den Hintergrund. Hilfe holt man sich über die Whatsapp-Gruppe – dauert nicht länger als wenn man x-mal bei der Nachbarin klingelt, bis sie zuhause ist und ein Werkzeug verleihen kann.

Die Schuhe der unbekannten Nachbarn erinnern mich auch an das indianische Sprichwort: "Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist." Nicht nur in den Highheels der unbekannten Nachbarin bin ich je gegangen. Noch nie eigentlich einen Monat lang in jemandes anderen Schuhe. Bleib zurückhaltend mit jedem Urteil, lehrt schon morgens der Blick ins Treppenhaus. 

Ja mehr noch: Geht es mir bei vielen Menschen nicht ähnlich wie bei den unbekannten Nachbarn mit ihren Schuhen? Genau besehen, erkenne ich von den allermeisten Menschen nur einen spärlichen Ausschnitt. An Arbeitskollegen sehe im Wesentlichen nur ihre beruflichen Fähigkeiten. Wer sie wirklich sind – kann ich das je ahnen? Wo ich so lange von einer Kollegin nicht mal wusste, dass ihr Mann eine schwere Immunerkrankung hat und sie vor langem ein Kind verloren haben.

Von klein auf ist mir vertraut, dass es im ersten der Zehn Gebote heißt: "Du sollst Dir kein Bild von Gott machen." Erst spät habe ich wahrgenommen, dass unmittelbar damit in der Bibel die Aufforderung verknüpft ist: "Du sollst dir kein Bildnis machen von irgendetwas … auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde." (Ex 20,4)

Wenn ich heute Morgen wieder an den Schuhen meiner unbekannten Hausgenossen vorbei gehe, lehren sie mich genau diese Zurückhaltung. Und darin Wertschätzung. Ehrfurcht sogar. Und: Die Bereitschaft, neugierig zu bleiben und mich überraschen zu lassen. Vielleicht lernen wir uns ja heute zufällig im Treppenhaus kennen. Vielleicht läutet ausgerechnet heute die Nachbarin, erzählt von den Mühen, hier am Ort Tritt zu fassen und bietet mir ein Stück von ihrem frischen Kuchen an. Und fragt beiläufig vorsichtig, ob mich irgendwo der Schuh drückt. Weil sie mich vom Fenster aus manchmal sieht und ich nachdenklich wirke, wenn ich morgens aus dem Haus gehe.

Über die Autorin Maria-Anna Immerz

Maria-Anna Immerz, geboren 1959, studierte Philosophie und Theologie in München und in Freiburg im Breisgau. Seit 1985 ist sie Pastoralreferentin im Bistum Augsburg und somit aktiv in verschiedenen Tätigkeitsbereichen auf gemeindlicher und diözesaner Ebene. Frau Immerz ist diözesane Beauftragte und geistliche Beraterin für den Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Augsburg sowie für den Fachbereich Schwangerenberatung. Seit 2011 ist Frau Immerz Diözesanbeauftragte für den öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk und seit 01.09.2013 Theologische Referentin im Generalvikariat. Frau Immerz lebt in Augsburg.

Kontakt: maria-anna.immerz@bistum-augsburg.de