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Herzzerreißend

Morgenandacht, 06.03.2024

Kaplan Bernhard Holl, Berlin

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"Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider!" (Joel 2,13)

Jedes Jahr beginnt die Fastenzeit in der katholischen Kirche mit diesem Aufruf des Propheten Joel aus der Bibel. Vor drei Wochen – am Aschermittwoch – war es wieder soweit. Diese dramatische, auch etwas rätselhafte Mahnung fand ich schon immer bewegend. Man versteht gleich, dass es um etwas Existenzielles geht – aber um was eigentlich genau?

"Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider!" Der Prophet kommentiert damit eine Praxis, die zu seiner Zeit schon uralt war. Jemand zerreißt in einer spontanen, leidenschaftlichen Geste die Kleider, die er am Leib trägt: Ausgedrückt wurde damit im alten Orient überwältigende Trauer oder Empörung, unerträgliche Scham oder Ohnmacht, so dass es einem die Sprache verschlägt und man sich nur noch wild und verzweifelt irgendwie Luft machen will.

Die biblischen Schriften sind voller Beispiele: Der Patriarch Jakob zerreißt sein Gewand, als man ihm sagt, dass sein Lieblingssohn Josef gestorben ist. Genauso machen es Generäle wie Josua oder Jonathan der Makkabäer, wenn das Volk eine schwere Niederlage im Kampf erleidet. Aber vor allem die Protagonisten der Königszeit liebten diese dramatische Geste anscheinend sehr.

Ein Prophet wird vor aller Augen in den Himmel entrückt? Klar zerreißt man da erst mal die Kleider. Gottes Zorn droht, weil sich keiner mehr an die Gebote hält? Besser erst mal die Kleider zerreißen. Belagerung? Staatsstreich? Diplomatische Krise? Eindeutig: Kleider zerreißen!

Man kann es erahnen: So ein Ausbruch aus tiefster innerer Erschütterung kann auch zur eingeübten Formel werden. Besonders dann, wenn einer damit moralische Zerknirschtheit und Reue ausdrücken will: "Seht her, ich bin so untröstlich und es tut mir so leid, was passiert ist, dass ich sogar meine Kleider zerreiße!"

Aber dem Propheten Joel reicht das nicht. Man kann sich das gut vorstellen: Immer und immer wieder hat er gesehen, dass alle Welt sich scheinbar reumütig das Gewand zerreißt – aber es ändert sich nichts! Was auch immer vorher das Problem war, was auch immer alle so bedauern – nach dem rituellen Bußakt geht es weiter wie vorher. Und dagegen gibt es nur ein Mittel: Zerreißt eure Herzen! Ihr müsst euch selbst zutiefst ändern, ruft Joel den Menschen zu, und nicht bloß eine oberflächliche Schau abziehen!

So gesehen erinnert das wohl nicht bloß mich an manche heutigen Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft. Die zerreißen zwar nicht buchstäblich ihre Kleidung, wenn etwas schiefgelaufen ist und sie dafür geradestehen sollen. Aber rituell und formelhaft können ihre Statements trotzdem leicht geraten. Ob es um Missbrauch in der Kirche geht oder um Diskriminierung in Behörden, um Doping im Spitzensport oder Korruption in der Wirtschaft – die Sprach-Schablonen, mit denen Betroffenheit, ja, tiefe Erschütterung ausgedrückt wird, sind oft vorhersehbar wie das biblische Kleider-Zerreißen.

Und mal ehrlich: In meinem persönlichen Leben ist es ja oft nicht besser. Mehr Zeit fürs Gebet! Weniger Fleisch und Alkohol konsumieren! Öfter für wohltätige Zwecke spenden! Was auch immer ich mir gerade jetzt in der Fastenzeit wieder vornehme, die Gefahr ist immer, dass es beim idealistischen Appell an mich selbst bleibt. Ein richtig schöner Vorsatz, für den man am besten noch direkt Applaus bekommt, der fühlt sich halt wie ein großer Schritt an – vielleicht sogar so groß, dass ich schon das Gefühl habe, eigentlich genug getan zu haben, allein mit meiner wunderbar guten Absicht. Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider! Die schöne Geste allein zählt nicht, sie muss auch wirklich im Leben ankommen.

Über den Autor Kaplan Bernhard Holl

Bernhard Holl ist seit 2014 Priester im Erzbistum Berlin. Er studierte Geschichte in Leipzig und Berlin sowie Theologie in Erfurt und Buenos Aires. Neben seiner Tätigkeit als Seelsorger forscht und publiziert er zu kirchenhistorischen Themen. 2022 Promotion in Religionswissenschaft an der Universität Potsdam.

Kontakt: bernhard.holl@erzbistumberlin.de