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Klassentreffen

Morgenandacht, 06.08.2024

Kaplan Andreas Hahne, Viersen

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Im Abstand von fünf Jahren trifft sich unser Abiturjahrgang zum Klassentreffen. In einigen Wochen ist es wieder so weit. 20 Jahre ist es mittlerweile her, dass wir die Schule verlassen haben. Ich denke sehr gerne an die Schulzeit zurück, und deshalb mag ich diese Treffen sehr.

Schnell sind wir dann bei den Anekdoten aus der Schulzeit angekommen, wir wärmen Erinnerungen auf und lassen uns zurückversetzen in eine scheinbar unbeschwerte Zeit. Denn eines ist klar: Wir verklären dabei auch so manches Erlebnis. Die vielen langweiligen Momente im Schulalltag und die Anspannung vor Klausuren blenden wir eher aus. Am Ende zählt vor allem die Erfahrung, dass uns dieser Lebensabschnitt gut gelungen ist. Wir vergewissern uns, dass uns das keiner mehr nehmen kann.

Diese Sicherheit ist ein Teil unserer Identität, und es ist gut, sich das von Zeit zu Zeit bewusst zu machen. Das unterstreicht eine Soziologin mit einem Zitat, das ich in einem Artikel gelesen habe: "Gerade in der heutigen Zeit des rasanten Wechsels brauchen wir ein soziales kollektives Gedächtnis, um den roten Faden in unserem Leben nicht zu verlieren." [1]

Solche "roten Fäden" findet man auch in fast allen Religionen. Mir kommt dabei eine Geschichte aus der Bibel in den Sinn: der Auszug aus Ägypten. Darin wird erzählt, dass das Volk der Israeliten in Ägypten lebt und von der dortigen Bevölkerung unterdrückt wird. Gott aber wählt sich das unterdrückte Volk aus und führt es auf wunderbare Weise durch das Rote Meer hindurch in die Freiheit.

Wer in der Bibel nachliest, erkennt dabei: Diese Geschichte wird immer wieder erzählt, dabei aber in verschiedenen Varianten, die in Details manchmal nicht zueinander passen. Man fragt sich, welche Version dieser wunderbaren Rettung ist denn nun die richtige? Auch hier stellt sich die Frage: Haben diejenigen, die diese Geschichte zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedliche Weisen aufgeschrieben haben, möglicherweise etwas verklärt?

Sind sie beim überschwänglichen Sich-Erinnern oder beim Nacherzählen dessen, was sie selbst erzählt bekommen haben, nicht ganz genau gewesen? Haben Sie ausgeschmückt, oder etwas weggelassen? Hand aufs Herz: Sind wir nicht alle so? Gehen wir beim Erzählen unseren eigenen Geschichten aus der Vergangenheit nicht gerne über das tatsächlich Erlebte hinaus?

Doch für mich liegt darin etwas Entscheidendes. Diese Geschichten, die wir möglicherweise ausschmücken, waren für unser Leben ganz bedeutend, sie haben uns zutiefst berührt und geprägt. Es ist dabei etwas in unserem Innern passiert, das von außen betrachtet nicht unbedingt erkennbar war. Wenn wir dann dem in unseren Erzählungen Raum geben, spricht das Herz mit. Und dabei wird etwas erkennbar, was letztlich immer wahr ist: Das Wesentliche dieser Erfahrung, das, was das Erlebte im Kern für uns bedeutet. Oft gelingt gerade das erst im Blick zurück.

Für das Volk Israel war das die Rettungserfahrung. Eine ausweglose Situation hat sich ins Gute gekehrt, und diese Erfahrung wurde kollektiv gemacht und auf Gott bezogen. Der Glaube an die Gotteserfahrung war so entscheidend, dass die Geschichte immer und immer wieder über Jahrhunderte erzählt wurde. Sie ist dabei identitätsstiftend geworden, zum roten Faden.

Es ist wichtig, die roten Fäden in unserem Leben zu erkennen, dafür muss die Erinnerung wachgehalten werden. Das gilt nicht nur für die Schulzeit – sondern auch für die potentiellen Gotteserfahrungen in unserem Leben.


[1] Sabine Damaschke, Mein Haus, mein Boot, mein Auto. Siegenerin analysiert Soziologie von Klassentreffen, https://www.wp.de/staedte/siegerland/article1143957/mein-haus-mein-boot-mein-auto-siegenerin-anlalysiert-soziologie-von-klassentreffen.html

Über den Autor Andreas Hahne

Andreas Hahne, geb. 1984, ist Kaplan in der kath. Kirchengemeinde St. Remigius, Viersen. Er hat von 2017 bis 2021 Theologie in Frankfurt/Sankt Georgen und Brixen (Südtirol, Italien) studiert. 2023 ist er in Aachen zum Priester geweiht worden. Vor seinem Theologiestudium hat er als IT-Berater und Projektleiter in Köln gearbeitet. Seine Hobbys sind Volleyball, Wandern und Musik.

Kontakt: andreas.hahne@bistum-aachen.de