Seit dem Einfall der russischen Armee in die Ukraine macht das Wort von der „Zeitenwende“ die Runde. Die Welt ist eine andere geworden.
Zeitenwenden gab und gibt es auch in der Geschichte der Religionen. So erlebten die Israeliten eine dramatische Zeitenwende in der Antike. Im Jahr 586 v. Chr. geschieht das Unvorstellbare. Das Königreich Juda wird von den Truppen Babylons besetzt, die Hauptstadt Jerusalem verwüstet und der von Salomo erbaute Tempel zerstört. Der letzte regierende König wird geblendet und verbannt, seine Söhne brutal ermordet. Die Sieger deportieren Zehntausende Judäer ins Zweistromland.
Es ist der Tiefpunkt der Geschichte Israels. Viele fragen sich verzweifelt: Warum hat unser Gott diese Katastrophe nicht verhindert? Sind die Götter der Feinde unserem Gott überlegen? Nach den Gesetzmäßigkeiten der Zeit wäre eigentlich mit dem Verlust von Staat und Tempel auch das Ende der Religion Israels gekommen. Aber genau das geschieht nicht. Ganz im Gegenteil! Im Exil entsteht eigentlich erst das Judentum, so wie man es heute kennt. Die schlimmste Krise wird zum Wendepunkt in der Geschichte des Volkes Israel.
Die nach Babylon verschleppten Tempelpriester finden eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“. Nicht der Gott Israels hat versagt, sondern das Volk und seine Führung. Die warnenden Stimmen der Propheten wurden im Vorfeld ignoriert. Männer wie Jesaja und Jeremia hatten vor den Folgen von Götzendienst und Unrecht gewarnt.
Jetzt im Exil, fern der Heimat, erfindet sich Israel neu. Gott ist an keinen Tempel gebunden, man begegnet ihm in den Worten der Heiligen Schrift. Religion ist möglich auch ohne Opferkult. Aus Tempelpriestern werden Schriftgelehrte. Sie ordnen die alten Texte und schreiben neue, die deutlich machen: Es gibt keine anderen Götter neben dem Gott Israels. Er allein ist der Schöpfer des Himmels und der Erde.
Und so entsteht der Hymnus der Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Ohne Scheu bedient man sich des in Babylon gebräuchlichen Wochenschemas. Und die Juden übernehmen sogar die babylonischen Monatsnamen. Gleichzeitig ist die erste Seite der Hebräischen Bibel eine klare Absage an den Glauben der fremden Herren. Deren astronomische Götter werden entzaubert. Sonne, Mond und Sterne sind nur bloße Lampen zur Erleuchtung von Tag und Nacht. Der siebte Tag, der Schabbat, wird in Erinnerung an Gottes gute Schöpfung zum wöchentlichen Feiertag. Auch das eine Revolution!
Die Autoren der Bibel greifen ungeniert auf Motive der populären babylonischen Heldensagen zurück. Die Sintflutgeschichte gehört dazu. Noach wird in der biblischen Erzählung zum Repräsentanten der ganzen Menschheit, mit der Gott nach der Katastrophe einen ewigen Bund schließt. Der Regenbogen soll immer daran erinnern.
Hinzu kommt der engere Bund mit dem Volk Israel, den Gott mit der Beschneidung Abrahams besiegelt. Seit dem Exil ist die Beschneidung, die die Babylonier nicht kannten, ein sinnstiftendes Merkmal für die jüdische Identität.
Mit diesen und anderen Maßnahmen gelingt es dem Volk Israel, seine Eigenart im Exil zu bewahren. Auch ohne Tempel, König und eigenem Staat ist Gott dem Gläubigen nah. Die Hoffnung auf eine Rückkehr ins Gelobte Land halten Propheten wach. Dem Exodus der Vorväter aus Ägypten werde ein neuer aus Babylon folgen. Und tatsächlich: Nach dem Sieg der Perser über die Babylonier erlaubt König Kyros der Große die Rückkehr. Aber nur eine Minderheit der Juden macht davon Gebrauch. Die meisten bleiben im Land zwischen Euphrat und Tigris.
Ohne die Zeitenwende des Exils hätte die jüdische Religion womöglich nicht überleben können. Und aus ihr ist der christliche Glaube hervorgegangen. Es stimmt also: Jede Krise birgt auch die Chance auf einen Neubeginn.