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Starker Maßstab: die Schwachen

Morgenandacht, 07.02.2024

Maria-Anna Immerz, Dillingen

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An diese U-Bahn-Fahrt muss ich immer wieder denken und sie hat mich etwas Entscheidendes gelehrt: Es war in Mexiko City, ich war dort vor einigen Jahren auf einem internationalen Treffen. Der Ticketkauf am Automaten ging dank einiger aufgefrischter Spanisch-Vokabeln noch reibungslos – doch dann ging es schon los:

Die U-Bahnstationen hatten ungewöhnliche Namen, wohl noch aus der Sprache der Azteken: Xochimilco und Chapultepec. Unglaublich lang waren manche Namen, komplizierte Buchstabenreihungen. Ich strengte mich an, mir die Stationennamen zu merken, zu denen ich fahren wollte.

Und dann sitze ich in der U-Bahn. Im Waggon sehe ich die Streckenpläne; darunter immer Streifen mit farbigen quadratischen Symbolen: Reiter, Brunnen, Kaktus, Krieger, stilisierte Gebäude. Wie Memory oder Bilderrätsel schauen diese Bilderleisten aus. Nach ersten Tagen zu Fuß und im Taxi in der Riesenstadt erkenne ich jetzt in der U-Bahn in diesen farbigen Symbolen manches wieder – Stadtpark, Denkmal, Palast der Schönen Künste. Nach und nach kapiere ich den Zusammenhang. Die Symbole und Farben auf den Bilderleisten stehen für die einzelnen U-Bahn-Stationen. Direkt neben dem Namen der Haltestelle erkenne ich jeweils das passende Bild dazu wieder. Mithilfe dieser Bilder finde auch ich mich jetzt zurecht. Den richtigen Ausstieg habe ich so nie verpasst. 

Ein Kollege, der in Mexico lebt, erklärt mir: Dieses Schildersystem mit den bunten Symbolen gibt es wegen der vielen Menschen hier, die nicht lesen und schreiben können. Wäre undenkbar, dass sie immer den Nachbarn fragen müssten, wie die nächste Haltestelle heißt; und peinlich, wenn sie sich dabei als Analphabeten outen müssten.

Nach der anfänglichen Überforderung hat mich das bunte Bildersystem in der U-Bahn in Mexico City damals beeindruckt: Eine Gesellschaft entwickelt ihre Infrastruktur von denen her, die ein Manko haben. Was den Einheimischen das Leben erleichtert, die nicht lesen können, ist auch für Ausländer wie mich dann eine Super-Sache. 

Und ich übertrage das im Kopf auf unsere Verhältnisse: Es gäbe dann ausreichend Lebensmittelgeschäfte im Stadtteil, weil man Leute im Blick hat, die mit Rollator oder Kinderwagen zu Fuß gut hinkommen müssen und für die weite Wege ein großes Problem sind. Davon würden auch die Fitten profitieren – sie könnten aufs Auto verzichten. Nicht nur ein Plus für die Umwelt.

Und mir fallen weitere Situationen ein, in denen der Blick auf die Schwächeren auch den anderen zugute kam: Die Reise, bei der ein paar Leute mit Handicap dabei waren. Am Ende lobten alle, dass das Reiseprogramm so ein menschliches Tempo hatte diesmal, stressarm und heiter. Und ich erinnere mich an Gottesdienste, in denen wir eine Geschichte der Bibel in leichter Sprache präsentiert haben – damit die Kinder sie gut erfassen. Bedankt haben sich Große: der Bibeltext sei so aussagestark gewesen. 

An Jesus erinnere ich mich dabei auch. Seine Grundbewegung war genau die: Menschen von den Rändern in die Mitte zu holen. Formuliert hat Jesus das so: "Wer einen von den Kleinen aufnimmt, der ist ein Großer." (Lk 9,48).

Unser Miteinander von den Schwächeren her gestalten – das nimmt den Stärkeren nichts. Im Gegenteil. Das gibt Menschlichkeit. Für alle! Für mich war das ein wichtiges Souvenir damals aus der U-Bahn in Mexico! Es lässt sich jeden Tag auffrischen. Weil auch heute Leute um mich sind, denen gut täte, dass wir von ihnen her denken. Alle hätten was davon.   

Über die Autorin Maria-Anna Immerz

Maria-Anna Immerz, geboren 1959, studierte Philosophie und Theologie in München und in Freiburg im Breisgau. Seit 1985 ist sie Pastoralreferentin im Bistum Augsburg und somit aktiv in verschiedenen Tätigkeitsbereichen auf gemeindlicher und diözesaner Ebene. Frau Immerz ist diözesane Beauftragte und geistliche Beraterin für den Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Augsburg sowie für den Fachbereich Schwangerenberatung. Seit 2011 ist Frau Immerz Diözesanbeauftragte für den öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk und seit 01.09.2013 Theologische Referentin im Generalvikariat. Frau Immerz lebt in Augsburg.

Kontakt: maria-anna.immerz@bistum-augsburg.de