"Ghosting" – das ist mal wieder einer dieser treffenden Begriffe aus dem Englischen, der sich kaum übersetzen lässt. Gemeint ist damit, dass sich jemand einfach nicht mehr meldet, mit dem man vorher eigentlich guten Kontakt hatte. Besonders bei Liebesbeziehungen, die ein Partner plötzlich abbricht, spricht man davon, dass er sich scheinbar wie ein Geist in Luft auflöst. Im Deutschen sagte man da früher, einer ist Zigaretten holen gegangen. Ghosting kann es aber auch zwischen Verwandten oder Freunden geben, auf dem Arbeitsmarkt oder bei Geschäftspartnern.
Das Gemeine beim Ghosting ist vor allem die Unsicherheit. Wenn mir jemand nach einer wütenden Schreierei die Freundschaft kündigt, dann weiß ich wenigstens, woran ich bin. Wenn ich einen langen Brief bekomme mit einer ausführlichen Erklärung, warum die Beziehung keinen Sinn mehr hat, dann ist die Sache klar. Aber wenn ich von dem anderen einfach nichts mehr höre, oder erst auf die fünfte Textnachricht eine viel zu kurze Antwort bekomme, kann ich nur raten – habe ich etwas falsch gemacht? Ist derjenige einfach nur gerade schwer beschäftigt, oder ist er kurz davor, mich zu ghosten?
Ich glaube: Auch religiöse Menschen haben manchmal das Gefühl, geghostet zu werden – und zwar von keinem Geringeren als Gott selbst. Warum antwortet er nicht, wenn ich ihn anrufe? In der Kirche heißt es doch ständig: Er ist immer für uns da! Liegt ihm eigentlich noch etwas an unserer Beziehung? Wo ist er überhaupt? Diese Zweifel kommen schon in den biblischen Psalmen vor und viele große Heilige haben sich genau solche Fragen gestellt, von Paulus über Johannes vom Kreuz bis zu Mutter Theresa.
Gerade wenn man in die Bibel schaut, kann man schon den Eindruck bekommen: Gott zieht sich langsam aus der Welt zurück. Mit Adam und Eva geht er noch persönlich im Garten spazieren und redet auf Du und Du mit ihnen. Mose erkennt Gott immerhin noch in einem brennenden Dornbusch; bei Elija ist es nur noch ein leiser Windhauch. Als endlich Jesus von Nazareth kommt – wahrer Gott und wahrer Mensch, wie wir Christen glauben – da nehmen ihn die allermeisten gar nicht als Gott wahr. Denn hätten sie ihn erkannt, so schreibt Paulus später, hätten sie ihn ja wohl kaum gekreuzigt. Meldet er sich deshalb seitdem so wenig? Ist das Ghosting komplett?
Ich habe noch eine andere Idee, was dieser langsame Rückzug Gottes bedeuten könnte.
Am Anfang des Lebens verbringen Eltern sehr, sehr viel Zeit mit ihren Kindern. Ein Säugling braucht Hilfe sogar bei den einfachsten körperlichen Bedürfnissen. Auf Kleinkinder muss man immer noch die meiste Zeit aufpassen, aber Vieles können sie auch schon selbst. Und je größer sie werden, desto mehr kommen Kinder allein zurecht. Wenn sie erwachsen werden, verdienen sie bald ihr eigenes Geld, gründen eigene Familien – und brauchen die Eltern immer weniger.
So ist vielleicht auch die Menschheit insgesamt über die Jahrtausende einfach erwachsener geworden. Gott hat uns nicht verlassen, sondern Schritt für Schritt frei gelassen. Jesus hat seinen Jüngern nicht nur versprochen, dass er immer für sie erreichbar sein wird, sondern auch, dass sein Heiliger Geist in ihnen sein wird. Auch das haben gläubige Menschen durch die Jahrhunderte immer wieder erfahren: In den dunkelsten Momenten ist da trotz allem ein innerer Trost, eine Gewissheit, nicht allein zu sein. Nach langem Zweifeln und Beten stellt sich plötzlich Klarheit ein und eine Perspektive, wie es weiter geht. Das bewirkt Gottes Geist in mir.
Wenn man das Wort "Ghosting" so umdeutet, dann passt es eigentlich gar nicht so schlecht. Gott wird nicht zum nebulösen Phantom, sondern zum Heiligen Geist; zur Kraft, die uns erfüllt.