"Soll man die Kirche noch im Dorf lassen, wenn im Dorf niemand mehr zur Kirche geht?" Aber gilt nicht auch: "Je leerer die Kirche, desto besser die Akustik?"
Der Theologe Hans-Joachim Höhn hat diese Bonmots formuliert. Bei dem zweiten musste ich daran denken, wie ich vor einigen Jahren die Abendmesse in Münsters Innenstadt zelebrierte. An diesem Werktag verloren sich nur wenige Menschen im weiten Rund der Kirche. Während der einführenden Besinnung und Stille stürmte plötzlich eine Gruppe Männer in Radlerhosen mit Lärm und Geschnatter in die Kirche und begann, sich im hinteren Teil der Kirche umzuziehen. Ja klar, in Münsters gute Stube, also auf den Prinzipalmarkt, geht man doch nicht im Radlerdress! Das erschien ihnen wohl unangemessen, ihr Auftritt in der Kirche dagegen nicht. Wie ich reagiert habe? Ich habe sie mit deutlichen Worten gebeten, das bitte zu unterlassen. Sofort verließen sie die Kirche. Danach kehrte wieder Stille ein. Der Gottesdienst ging weiter.
"Je leerer die Kirche, desto besser die Akustik."
Damals war ich durch den Auftritt der Männer überrumpelt. Heute denke ich darüber nach, wie ich vielleicht besser hätte reagieren können. Aber mir wurde auch wieder deutlich, was kirchliche Realität ist. Die Gotteshäuser werden immer leerer, aber in einer Innenstadtkirche wie St. Lamberti Münster reist der Touristenstrom nicht ab; Menschen erfüllen tagsüber die Halle mit ihrem Reden, Lachen, Geknipse. Ist es die Verlegenheit ob des fremden Raumes? Was löst ein solcher Raum noch aus, wenn immer mehr Menschen eine Kirche nur noch von außen wahrnehmen, das Innere aber verschlossen bleibt, auch wenn die Türen offen sind?
Man hört als Besucher nur noch das Echo des eigenen Lärmpegels, mal lauter, mal dezenter. Da möchte man dazwischen gehen und rufen: "Aufhören!"
Gerade habe ich von dem Soziologen Hartmut Rosa einen Vortrag gelesen. In dieser Rede fragt er nach der eigentümlichen und doppeldeutigen Stoßrichtung des Verbums "Aufhören". Naheliegend ist die eben von mir angesprochene Bedeutung in dem Sinne: Schluss damit!
Aber das Verb lässt sich auch in seiner Grundbedeutung verstehen. Es geht ums Hören, aber es ist ein Hören, das eben nicht einfach nur das hört, was neben mir, im Großen wie im Kleinen, in die Welt hinausposaunt wird. Von rechts und links werde ich fortlaufend, wie sagt man heute, "zugetextet": eine Flut von Nachrichten, Botschaften, Parolen, Fake News. Manchmal kommt mir das vor wie ein Tsunami oder permanenter Wortdurchfall. Wenn ich darin nicht teilnahmslos wegen der schieren Fülle versinken will, braucht es eine heilsame Unterbrechung. Aufhören!
Und die Vorsilbe des Verbs zeigt an, wohin die Richtung geht: "Auf", also nach oben, in eine Sphäre hineinhorchen, die die horizontale Verflachung hinter sich lässt und eine Dimension wahrnimmt, die in mir einen Widerhall findet. Hartmut Rosa spricht von Resonanz, was ja heißt: In mir kommen Töne ins Schwingen, die ausgelöst werden, weil ich mich wirklich angesprochen, ja berührt und ergriffen fühle. Auch das habe ich in Kirchen schon so oft wahrgenommen, wie Menschen plötzlich still werden, aufschauen, geradezu in sich einkehren. Da kommt etwas in Bewegung, weil eine Resonanz zu spüren ist, die das Banale und Alltägliche hinter sich lässt und einschwingt in ein "Auf – hören."
Heute denke ich, ich hätte den damaligen polternden Radlerclub besser einladen sollen: Kommen Sie, nehmen Sie Platz! Hören Sie einen Augenblick mit uns auf, lauschen Sie mit uns auf die ganz anderen Töne aus der Gegenwart Gottes hier und jetzt.
Anschließend können Sie sich gerne in der Sakristei umziehen… Herzlich willkommen!