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Ewigkeit heilt Wunden

Morgenandacht, 07.09.2023

Domkapitular Ulrich Beckwermert, Osnabrück

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Zeit heilt Wunden, heißt es. Und es stimmt. Nicht alle, aber viele Verletzungen, die lange zurückliegen, verlieren mit der Zeit ihren Schmerz. Wunden, die Menschen einander zugefügt haben, können nach Jahren neu bewertet werden und hören auf, einen hohen Stellenwert zu haben. Zeit heilt Wunden.

Aber die Zeit schlägt auch Wunden. Der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer hat Erfahrungen damit gemacht. Er spricht von der Macht und Gewalt der Zeit. In seinem nur 39 Jahre währenden Leben stand er unter furchtbarem Zeitdruck. Bonhoeffer sah sehr klar und deutlich den Machtzuwachs der Nationalsozialisten und das aufkommende Unheil. Er rief seine Kirche zum raschen Widerstand auf, musste aber feststellen, dass die Kirchenleitung viel zu lange brauchte, um die Gefahren des neues Unrechtsstaates zu erkennen. Die Zeit spielte gegen Bonhoeffer und die Diktatur wurde mit der Zeit immer stärker. Die Gewalt der Zeit.

Bonhoeffer erlebte auch, dass die Zeit ihn erstickte. Als der Theologe 1943 verhaftet wurde, war er zuerst in einer Einzelzelle. Niemand durfte mit ihm sprechen, es passierte nichts, es gab nur Zeit, sie dehnte sich bis ins Unerträgliche, verging einfach nicht und Bonhoeffer hatte Angst, durchzudrehen. Zuviel Zeit ohne Beschäftigung ist gefährlich, sie führt zu Überdruss und zu Langeweile. Und die kann tödlich sein. Auch wenn die Haftbedingungen sich bald besserten, spielte Bonhoeffer sogar mit dem Gedanken, sich im Gefängnis das Leben zu nehmen.

Erst als er sich seine Zeit in der Zelle einteilte durch Gebet und Studium und so wieder Macht über seine Zeit gewann, konnte er wieder mit Hoffnung in die Zukunft schauen. Denn mehr und mehr wuchs in ihm der Glaube, dass es nicht nur die Zeit gibt, sondern noch etwas Größeres. Die Ahnung davon hatte er bereits als junger Theologe lange vor seiner Verhaftung. In einer Predigt sagte er: Es "wird Wunderbares geschehen, wenn die Zeit ihre Gewalt an die Ewigkeit" verliert [1]. Jetzt im Gefängnis, wo Bonhoeffer der ganzen Gewalt der Zeit ausgesetzt ist und er ihr nur mit strenger Disziplin Herr werden kann, erfährt er noch die viel größere Macht der Ewigkeit.

Er glaubt: Alles, was die Zeit ihm nimmt, wird ihm der Ewige, Gott, neu schenken. Und die Zeit hat ihm fast alles genommen. Er war verliebt, aber die Zeit war gerade so, dass er sich nur über einen Brief verloben konnte. Er wollte mit seiner Verlobten zusammen sein, aber die Zeit war so, dass sie sich nur für ein paar Momente im Gefängnis treffen konnten – unter der Aufsicht eines Wärters. Als Bonhoeffer kurz vor Kriegsende endlich auf bessere Zeiten hoffen konnte, weil die Befreiung im April 1945 unmittelbar bevorstand, da nutzten die Nationalsozialisten ihre verbleibende Zeit, um Bonhoeffer hinzurichten.

Aber es war nicht das Ende. Die Ewigkeit war stärker als die Zeit. Bonhoeffers letzter Gedanke, so wird berichtet, geht am Morgen seiner Hinrichtung über die Zeit hinaus. Im Glauben an den auferstandenen Jesus Christus vertraut sich Bonhoeffer unter dem Galgen der Ewigkeit an. Aus Gewalterfahrung wird die Erfahrung des Lebens.

Viele können ihre Geschichte erzählen, was ihnen die Zeit nicht gegeben oder sogar genommen hat. Manche leiden bis heute unter der Gewalt ihrer Zeit, darunter, was einst nicht möglich war und für was es jetzt zu spät ist. Zeit schlägt Wunden. Die Ewigkeit kann sie heilen. In der Ewigkeit lebt weiter, was wir in der Zeit verloren haben. Dieses Geheimnis nennt Bonhoeffer wunderbar. Es hat ihn getragen durch die dunkelsten Stunden seines Lebens. Deshalb predigt er: Es "wird Wunderbares geschehen, wenn die Zeit ihre Gewalt an die Ewigkeit" verliert." Ewigkeit heilt Wunden.


[1] Marsh, Charles: Dietrich Bonhoeffer. Der verklärte Fremde. Eine Biografie. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, S. 99.

Über den Autor Ulrich Beckwermert

Ulrich Beckwermert ist Domkapitular in Osnabrück. Er ist 1964 geboren und aufgewachsen in Emsdetten und Bad Rothenfelde. Nach dem Studium in Frankfurt und Wien wurde Ulrich Beckwermert 1990 zum Priester geweiht. Es folgten u.a. Aufgaben als Kaplan und Pfarrer, Regens des Priesterseminars und Generalvikar. Bis zur Einführung eines neuen Bischofs von Osnabrück ist er Ständiger Vertreter des Diözesanadministrators des Bistums.