Wer als Vertreter der Katholischen Kirche von Toleranz spricht, begibt sich auf heikles, womöglich vermintes Gelände. Denn Toleranz ist wohl nicht das Attribut, das die Öffentlichkeit der Kirche und ihrer Lehre im Allgemeinen zuschreiben würde. Über weite Strecken ihrer Geschichte fällt auf, dass sie sich gegen alles abgrenzt, was anders denkt und lebt, als sie es vorschreibt. Abweichler werden ausgegrenzt oder es droht ihnen Schlimmeres. Die Wahrheit hatte man mehr oder weniger für sich gepachtet. Weshalb also tolerant sein? Wer sich natürlicherweise im Recht wähnt, braucht keine Rücksicht auf andere zu nehmen.
Ich finde aber auch: Ganz anders sieht es heute in der Kirche vor Ort aus, in den Gemeinden, dort, wo Menschen versuchen, ihren Glauben so zu leben, dass dabei etwas von der Gesinnung Jesu zum Tragen kommt. Ich habe dort als Pfarrer viel Toleranz erlebt und auch versucht, sie selbst so gut es ging zu praktizieren. Es gab viele verschiedene Richtungen, wie Menschen ihre Frömmigkeit ausgedrückt haben: Charismatiker und Rosenkranzbeterinnen, lebhaft laute Familiengottesdienste und Messen mit gregorianischem Choral. Bis auf wenige Ausnahmen haben die Leute einander als Bereicherung erlebt.
Es gab ein Kirchenasyl für eine geflüchtete Familie, die abgeschoben werden sollte. Damit waren nicht alle einverstanden, aber auch die haben es mitgetragen. Immer wieder gab es Situationen, in denen Paare nicht das gelebt haben, was die Kirche vorschreibt. Ehen sind zerbrochen, neue Partner mit in die Gemeinde gekommen – und es ging dabei vorsichtig und freundlich zu. Mit den Jahren hatte es sich eingespielt, dass in der Kirche am Ort viele Platz haben, dass nicht alle immer der gleichen Meinung sein müssen.
Toleranz braucht eben auch Übung. Aber wenn sich die Haltung im Grundsatz erst einmal durchgesetzt hat, dann tut das allen gut. Es braucht sich ja niemand einzubilden, er sei auf die Toleranz der anderen nicht angewiesen. Und wenn jemand sich das einbildet, läuten bei mir sofort die Alarmglocken. Dass einer sich einbildet, eine ganz weiße Weste zu haben… So viel Selbstgerechtigkeit verträgt sich jedenfalls nicht gut mit der Demut, auf die Jesus hinweist, wenn er den Schriftgelehrten sagt:
"Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein." [1]
Oder:
"Du zeigst auf den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht." [2]
Es passiert oft schneller, als man denken kann. Plötzlich ist man in der Minderheitenposition und will dann auch nicht an den Rand gedrängt werden. Das bedeutet für mich Toleranz in der Kirche: dass auch die, die nicht der offiziellen Lehre entsprechen, nicht hinausgestoßen, marginalisiert werden. Dass man Gnade vor Recht ergehen lässt. Das alte Sprichwort hat ja seinen guten Grund. Und gerade dort, wo gern von Gnade gesprochen wird, sollte sie auch vorkommen, konkret werden, wie man miteinander umgeht.
Tolerant zu sein, bedeutet nicht, die Wahrheit aufzugeben. Aber oft genug hat die Kirche allzu genau gewusst, was wahr ist, hat ihre eigenen Machtansprüche mit der Wahrheit verwechselt. Das hat vielen Menschen geschadet und jetzt fällt der Kirche ihre eigene Strenge auf die Füße. Jetzt sind andere mit ihr und ihren überzogenen Ansprüchen ebenso streng. Was verständlich ist, aber kein Grund, alles zu verdammen, was Kirche ist. Nach wie vor lebt der gute Geist Jesu an vielen Stellen in ihr. Ein Geist, der an der richtigen Stelle tolerant ist. Gegenüber denen, die einen Fehltritt getan haben, gegenüber Minderheiten und Schwächeren. Ich bin überzeugt: Wo das gelebt wird, tut das unserer ganzen Gesellschaft gut.
[1] Johannes 8,7
[2] vgl. Matthäus 7,3