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Von Mauerseglern und Engeln

Morgenandacht, 09.07.2024

Pfarrer Timo Gothe, Weimar

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In meiner unmittelbaren Nachbarschaft lebt Helga Brunnemann. Eine beeindruckende alte Dame, die sich seit Jahrzehnten den Mauerseglern in Weimar verschrieben hat. Als in den 90er Jahren viele Häuser saniert wurden und dabei zumeist unwissentlich Nistplätze der Vögel verloren gingen, war sie es, die bei Hausbesitzern und Architekten immer wieder vorsprach und selbst auf Baugerüste kletterte mit der Forderung: "Hier kann, nein, hier muss ein Mauerseglernistplatz hin."

Ihrem resoluten Einsatz ist es zu verdanken, dass über Weimar von Mai bis September allabendlich am Himmel eine Vogel-Formel 1 zu bestaunen ist mit tollkühnen Kapriolen und waghalsiger Rasanz. Doch nicht nur das: Menschen aus dem Weimarer Umland bringen Frau Brunnemann hilflose, auf dem Boden liegende Mauersegler, die nach Unfällen an Scheiben und Mauern benommen und verletzt sind. Unzählige dieser Vögel peppelt Frau Brunnemann jedes Jahr wieder auf und bringt sie zum Fliegen.

Seit ich Helga Brunnemann kennenlernen durfte, schaue ich anders auf die Mauersegler, diese Akrobaten der Lüfte. Mich fasziniert, dass diese Vögel fast ihr ganzes Leben fliegend in der Luft zubringen. Nur zum Brüten suchen sie einen Nistplatz auf – zum Schlafen nicht. Wenn ich sie den Sommer über am Himmel sehe, frage ich mich: Wie muss es wohl sein, sich das erste Mal aus dem Nest zu wagen, die Flügel auszubreiten, sich der Luft anzuvertrauen und dann zu spüren: Sie trägt, sie hält mich, ich kann fliegen und höre damit gar nicht mehr auf.

Das Nachdenken über diese Vögel lässt mich nach meinem eigenen Glauben fragen. Ich stelle mir vor, ich würde mich dem Heilige Geist so anvertrauen wie die Vögel der Luft. Ich würde mein Leben lang mich tragen lassen von Gott, von dem ich glaube, dass er im Heiligen Geist unsichtbar zugegen ist. Ich stelle mir vor, dass der Heilige Geist mich beflügelt, mir Aufwind ist, um ungeahnte Höhen zu erreichen; der Heilige Geist, der mich im Schlaf nicht verlässt und mich am anderen Morgen neu ins Leben schickt.

Doch meinem kleinen Glauben fehlt oft dieses Mauerseglervertrauen. Das Leben stutzt mir die Flügel mehr als mir lieb ist, an manche Scheibe bin ich gestoßen. Benommen nicht nur von der Nacht, sondern von dem, was am Morgen schon in den Nachrichten alles passiert, versuche ich in den Tag zu kommen. Kann ich mich da bedingungslos Gott ausliefern, und – um im Bild zu bleiben – wie die Vögel ins Schweben, Gleiten, Fliegen kommen, als wäre es ein Leichtes?

Leichter fällt all das den Wesen, die viele Religionen kennen, den Engeln – Wesen, der himmlischen Sphäre zugeordnet. Sie bewegen sich zwischen den Welten. Vom ersten Buch der Bibel, der Genesisgeschichte bis hin zum letzten der Offenbarung des Johannes sind unzählige Geschichte, Träume und Bildmotive mit diesen Engelwesen verbunden. Mal sind sie Boten wichtiger Gottesnachrichten an die Menschen, mal ziehen sie dem Volk voran. Der Prophet Jesaja schaut sie in einer Vision mit sechs Flügeln um den Thron Gottes sich versammelnd, Gott lobend und preisend.

Ich will mir die Engel wie die Mauersegler vorstellen. Sie umschwirren uns und künden von Leichtigkeit, Eleganz und einem Vertrauen auf das, was sie trägt und was ihnen mit ihrer Flugfähigkeit gegeben ist. All das ist zum Staunen und für mich ein Grund, Gott zu loben, zu danken und mich mehr ihm anzuvertrauen.

Über den Autor Pfarrer Timo Gothe

Geboren 1974, abgeschlossene Ausbildung zum Werkzeugmacher. Nach Studium in Erfurt und Tübingen 2003 zum Priester geweiht.

Nach sechs Jahren als Diözesanjugendseelsorger in Erfurt seit 2015 Pfarrer in Weimar.

Kontakt: pfarrer.gothe@herzjesu-weimar.de