"Wo war ich, als ich noch nicht in deinem Bauch war?"
Von dieser Frage eines Kindes an seine Mutter erzählt der Theologe Fulbert Steffensky. Die Mutter ist angesichts der Frage verlegen, weiß nicht so recht, was sie sagen soll. Als keine Antwort kommt, gibt sich das Kind selbst die Antwort: "Ich war in Gott versteckt."
Warum ist das der Mutter nicht eingefallen? Die Antwort ist doch kinderleicht, oder? Nein, das ist, aus dem Mund eines Kindes, schwergewichtige Theologie, also Rede von und über Gott, die so federleicht daherkommt, dass es einem die Sprache verschlägt. Woher komme ich und wohin gehe ich, wäre vielleicht die erwachsene Übersetzung dieser Kinderfrage gewesen. Wie viel besser ist dagegen diese kinderschwere Theologie, die eine Ahnung vermittelt vom Protest des Lebens gegen seine drohende Sinnlosigkeit. Was wäre denn die Alternative? Vorher nichts und nachher nichts, wir kommen aus dem Nichts und gehen in das Nichts. Diesem Abgrund des Nichts streckt das Kind die Zunge raus: Ich war in Gott versteckt, schon immer!
Bei dieser Antwort muss ich sofort an Jeremia denken, für mich einer der spannendsten Propheten des Alten Testaments in der Bibel. Bei seiner Berufung zum Propheten lüftet Gott selbst in direkter Ansprache an Jeremia den Schleier über dessen Herkunft. Dahinter steckt die uralte Menschheitsfrage nach der eigenen Abstammung. Wessen Kind bin ich eigentlich? Reicht zur Beantwortung allein die Angabe der Eltern? Oder ist da noch ein Mehrwert, der den sattsam bekannten Spruch in die Schranken weist, dass jeder Apfel nicht weit vom Stamm fällt? Die Herkunft des Jeremia wird in Gott versteckt, eingeborgen und dem staunenden jungen Mann vor seiner Beauftragung enthüllt. Gott sagt ihm: "Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt."
Von wegen: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! Hier fällt ein Mensch weit weg von allen irdischen Stämmen und Abstammungen, fällt zurück in den Mutterschoß Gottes, der schon immer, seit einer ganzen Ewigkeit den besonderen Menschen gewollt hat, nicht nur den Jeremia, sondern jeden Menschen, in dem Gott selbst die Augen aufschlagen möchte. In jedem Menschen, der geboren wird, steckt die Verheißung Gottes, dass er die Lust am Leben und am Menschen nicht verloren hat. Jeremia ereilt ein großes Kompliment, ein geradezu über-irdischer Vertrauensvorschuss: Du bist ausersehen und geheiligt, kurz gesagt: Du bist etwas ganz Besonderes! So unentbehrlich Mutter und Vater sind, so wichtig Abstammungen und Stammesverwandtschaften sind, entscheidend für unser aller Mehrwert, ja unsere besondere Würde ist die federleichte und doch kinderschwere Theologie, die da lautet:
Wir waren schon immer in Gott versteckt. Kindermund tut Wahrheit kund…
In dieser Beziehung hat Jeremia einen kongenialen Partner, den Propheten Jesaja. Was Jeremia in der Tiefe seiner Existenz erfährt, knüpft Jesaja an den Namen jedes Menschen. Und so lässt er Gott zu den Menschen sprechen: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir. Wenn du durch Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort… Denn ich, der Herr, bin dein Gott… dein Retter."
Wir sind eben keine bloßen Nummern, Aktenzeichen oder anonyme Karteileichen. Wir sind angesprochen, wiedererkannt und gemeint in der eigenen Besonderheit. Gott kennt uns mit Namen, weil es seinem eigenen Namen entspricht, der da lautet: Ich bin da…für euch! Er kennt uns seit Ewigkeiten. Und für eine ganze Ewigkeit!