Abenteuerlust und Forschungsdrang trieben Menschen immer schon an, unbekannte Gebiete zu erschließen. "Terra incognita" sagt der Lateiner dazu. Sich auf unbekanntes Land zu begeben, neue Welten zu entdecken, unbekannte Wege zu betreten – dem wohnt ein Zauber inne
"Terra incognita" – ursprünglich ging es dabei um geografische Flächen oder Länder, die noch vor der Kartografie unentdeckt oder unerforscht waren. Doch mit dem Erschließen von unbekanntem Gebiet bin ich auch heute noch in meinem Alltag immer wieder konfrontiert. Ich bin Lehrer und darf dabei sein, wenn Schülerinnen und Schüler sich immer wieder neue Themengebiete erschließen, von denen sie vorher noch nie etwas gehört haben. Sie betreten beinahe unentwegt Neuland. Und nach der Schulzeit geht es erstmal noch immer so weiter. Wie oft arbeite ich mich bis heute in neue Themen und Wissensgebiete ein, gehe neue Herausforderungen an?
Für mich fängt das schon mit einer Gebrauchsanweisung für ein neues technisches Gerät an. Regeln ändern sich – auch auf sie muss ich mich neu einstellen. Online-Banking, Homeoffice – was habe ich nicht alles in der letzten Zeit dazu gelernt?
Allein der Umgang mit einer Pandemie war und ist für viele Menschen "terra incognita". Lernen hört ja eigentlich nie auf. In der Pädagogik spricht man vom "lebensbegleitenden Lernen", also "Lernen lebenslänglich". Solange ich lebe, lerne ich.
Ich stelle mir manchmal die Frage, inwiefern ich selbst auch "terra incognita" bin. Vor einigen Jahren erschien das Buch "Wer bin ich – und wenn ja wie viele?" Der Autor Richard David Precht geht hier der Frage nach, was man über sich selbst wissen kann und beginnt damit eine Einführung in die Erkenntnistheorie der Philosophie.
Ja, wie ist das mit dem Selbstbild und der Fremdwahrnehmung? Wann finde ich in all der Hektik und dem Trubel, der mich umgibt, wieder zu mir selbst? Wann reflektiere ich mich und mein Verhalten?
Vielleicht gibt es auch Neu-Entdeckungen von Kleinigkeiten um uns herum: Bei einem Spaziergang durch die Natur oder in einem Buch, das schon lange im Regal steht oder in der Begegnung mit Menschen, mit denen ich noch nie oder schon längere Zeit nicht mehr gesprochen habe. Das kann spannend sein und mich sensibel machen, hell-hörig machen, wie ich die Welt und meine Umgebung wahrnehme. Und es kann mich dankbar machen. Ich freue mich über all das, was mich umgibt – und auch auf das Neue, für das ich mich öffne.
Von dem Schriftsteller Franz Kafka stammt die Aussage: "Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden." Damit will er wohl sagen, wer mit Offenheit und Bereitschaft lebt, ständig noch nicht Bekanntes zu entdecken und wertzuschätzen, der bleibt lebendig. Der wird nie verschroben, wie so mancher im Herzen alt gewordener, dem dann auch entgeht, was neue Kraft geben könnte.
Das wünsche ich Ihnen und mir: Dass wir den Blick für Neues, Unbekanntes öffnen und uns so von der Schönheit der kleinen Dinge im Alltag überraschen lassen können. Eben: Dass ich mir die Fähigkeit erhalte, Schönes zu erkennen.
Vieles wartet darauf, entdeckt zu werden. Wer weiß, was heute an neuen Erfahrungen auf mich wartet? Ich bin gespannt. In diesem Sinne wünsche ich uns allen die Erfahrung von "terra incognita"!